Zeit und Erinnerung in Literatur und Film

Gedanken über Aitmatow, Gustafsson, Ransmayr, Proust und Sergio Leone (Text ca. 1987)

jenniferConnelly

Tragen Träume wie vertrocknete Blumen
Den Staub von gestern
Auf heute gekräuselten Blättern
In ein bodenlos blühendes Morgen?
Und aus Wasserhähnen tropfen Tränen
Auf Worte die ich finde
Bevor ich erblinde?
Fragt der Teddybär den stummen Fisch
Warum sagst du nichts?
War morgen nicht schon gestern?
 
Das Bild, das der Erzähler Said in Aitmatows Erzählung „Dshamilja“ von den beiden Liebenden gemalt hat, scheint nichts anderes als eine Metapher für das Buch selbst zu sein, das wir gerade gelesen haben. Genauso suggeriert der Erzähler in Prousts „Recherche“ dem Leser am Schluss, jetzt würde er beginnen, das Werk zu schreiben, das wir ebenfalls schon fertig in Händen halten. Das vollendete Produkt literarischer Kunst wird selbst Gegenstand seiner Handlung. Eine Folge des Standpunktes der Erzähler. Beide extrahieren ihre Geschichte aus Erinnerungen. Kunst als Extrakt des Lebens auf einer höheren Ebene. Das schafft eine ewig romantische, aber auch melancholische Sphäre der Vergänglichkeit. Ist Leben wirklich zu extrahieren und was sagt mir die so sublimierte Kunst über den existentiellen Augenblick des Jetzt, mit seiner ständigen Überforderung, sich für nur eine Zukunft entscheiden zu müssen? Heißt das nicht überspitzt: Leben ist nur im Nachhinein mit Sinn zu füllen, erschließt sich erst in dem bereits Gelebten? Im Moment des gelebten Augenblicks schauen wir immer wie in einen blinden Spiegel. Man sollte wohl das Spiegelbild nicht mit dem Betrachter verwechseln. Kunst und Leben lassen sich nicht zur Deckung bringen, das eine erzählt vom anderen und das andere ist ohne das eine nur stumpfe Existenz.
Die Hinweise auf die Unvollkommenheit von Saids Gemälde erscheinen bei der Meisterschaft der kleinen Erzählung wie eine zu bescheidene, untertreibende Selbstschmeichelei. Alle Künstler sind eitel. Ist nicht jedes Kunstwerk, auch unabhängig von der Erzählhaltung, vielleicht sogar jede der verschiedenen Künste, nur verdichteter Staub von gestern? Tragen Träume wie vertrocknete Blumen den Staub von gestern in einen bodenlos blühenden Morgen?
Alle Dinge scheinen miteinander verwandt zu sein. In der zufälligen Auswahl der Bücher, die ich lese, finden sich immer wieder Stellen, die wie seltsame Querverweise auf andere Romane hinweisen. Manchmal kommt mir der Gedanke, diese Zusammenhänge würden sich nur durch mich ergeben, durch ein fast chaotisches Denken und Erinnern. Zum Beispiel in dem Roman von Lars Gustafsson „Die dritte Rochade des Bernard Foy“ hat eben dieser Titelheld einen Freund, der kein anderer ist als der Teilnehmer einer Luftschiffexpedition unter der Führung des italienischen Generals Nobile zum Nordpol: Hans von Lagerhielm. Genau dies Szenario ist mir aber wohlbekannt aus dem Romanerstling „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ von Christoph Ransmayr. Ist die literarische Welt so klein, wer hat wen gelesen? Warum erinnert mich die Bemerkung jenes Bernard Foy: „Aber hatte es nicht stets etwas Störendes, um nicht zu sagen Genierliches, gehabt, den Umständen nachzuforschen, unter denen ein bedeutendes Kunstwerk entsteht“, was wiederum die Ursache des letzten Sonetts des großen Lyrikers meint, die rothaarige Literaturkritikerin im Ledersessel gevögelt zu haben an den kürzlich gelesenen Aufsatz „Fesselung und Entfesselung“ von Dieter Wellershoff? Dort ist vom dürren Gespenst der Sublimierung, der Geometrie, in Bezug auf minderwertige Pornographie die Rede.
Ist Lyrik nicht auch eine spezielle Geometrie der Wörter und eine Sublimierung wie auch immer gearteter Lebenserfahrung? Bleibt das Leben selbst nicht doch immer größer als jede künstliche Sublimierung? Vielleicht existieren viele Gegensätze auch nur in unseren Köpfen, vielleicht lassen sich Begriffe und Dinge endlos vergleichen und bleiben doch auch immer für sich. Wann ist ein Zusammenhang konstruiert und wann gibt es ihn wirklich? Heute scheinen Medien keine Grenzen mehr zu haben, sie überlappen sich und zitieren sich gegenseitig. Ein Film stellt mir eine Frage nach einem Buch, Bücher werden wie Filmszenarien geschrieben. Die direkte Umsetzung eines Buches in einen Film scheint immer mit einem Verlust einherzugehen. Nicht alles was man schreibt und was man lesen kann, kann auch verfilmt werden, auch ein Film ist ja nur bedingt erzählbar. Die Medien existieren unabhängig für sich und beeinflussen sich gegenseitig.
Die große, Regie führende Dame, unsichtbar, aber ständig präsent, von der Dylan Thomas seine Kindheit glorifizierend schrieb, sie ließe ihn „spielen und golden sein in der Gnade ihrer Allmacht“, ist ohne Zweifel auch in Sergio Leone´s „America“ die Zeit. Die Atmosphäre der Jugendszenen in Sergio Leone´s Film atmet etwas von der Poesie des Gedichtes „Fern Hill“ von Dylan Thomas. Die Figur des sich Erinnernden weist auf eine erste Parallele zu Proust, das Leben wird im Rückblick erzählt. Die Zeit ist die Gebieterin über Liebe und Freundschaft, Zerstörerin und Schöpferin zugleich. Ihr Rätsel zu lösen hieße, sich selbst oder Gott gefunden zu haben. Das italienische Sprichwort “L´amore lasci passare il tempo, il tempo lasci passare l´amore” verdeutlicht diese gottähnliche Doppelrolle. In einer Szene des Films „Once upon a time in America“ von Sergio Leone antwortet Robert de Niro auf die Frage von Moe, dem Bruder seiner großen Liebe Deborah: „Was hast du gemacht in all der Zeit?“ mit dem Anfangssatz aus dem Buch von Marcel Proust „A la recherche du temps perdu: „Ich bin früh schlafen gegangen“ („Longtemps je me suis couché de bonne heure). Der Film spielt wie Proust mit der Erinnerung, mit den Rückblenden auf die Bruchstücke der Vergangenheit. Ob Leone hier bewusst Proust zitiert bleibt nebensächlich, der Standpunkt des Erzählers aber ist der gleiche. Aitmatow, Proust, Leone, alle extrahieren ihre Geschichte aus ihren Erinnerungen, alle geben dem Geschehen die melancholische Sphäre der Vergänglichkeit. Auch in einer zentralen Frage scheinen sie sich zu ähneln. Der Frage nach der Wahrheit und dauerhaften Existenz von Gefühlen wie Freundschaft und Liebe. Angesichts so vernichtender Kräfte wie der Veränderlichkeit und Kontingenz des gesellschaftlichen Lebens im Strom der Zeit oder der Unvollkommenheit der menschlichen Natur schlechthin. In Robert Williams’ Freundschaft zu Maximilian Bercovicz und in seiner Liebe zu Deborah scheint etwas bis zum Schluss unzerstörbar. De Niros Opiumlachen am Anfang und am Ende des Films ist ein philosophisches. Der Sinnlosigkeit, dem Verfall der Gefühle, lässt sich nur mit einem bizarren Lachen begegnen. Die „Madeleine“ wurde zur Opiumpfeife, die „Memoire involontaire“ beschwört die sinnhaften, entscheidenden Stationen des Lebens herauf. Das Ganze wird erst in der Erinnerung zu einem Belächelten und erst im Nachhinein, im Zusammenhang des Kunstwerkes mit Sinn erfüllt. So unterschiedlich und nicht miteinander vergleichbar Prousts Literatur und Leone´s Film erscheinen mögen, der Ansatz des künstlerischen Schaffensprozesses ist der gleiche.
Die jugendliche Deborah, die mit kindlichem Charme entwaffnend und anrührend spielende Jennifer Connelly, gesteht dem jungen, kleinen Straßengauner „Noodles“ ihre Gefühle. Sie weist ihn darauf hin, dass er nicht nur seinen voyeuristischen Vergnügungen, ihr bei den Tanzübungen heimlich zuzuschauen, nachgehen sollte. Dass man nicht nur in der Synagoge, sondern überall beten könne. Sie liest ihm aus dem Hohelied Salomo vor, jede Zeile mit einer humorigen Bemerkung kommentierend, in denen die traurige Vergeblichkeit ihrer Liebe anklingt, weil ein so kleiner Gauner wie „Noodles“ nie ihre Sünde sein könne:
Mein Geliebter ist schneeweiß und rosig

Seine Wangen sind aus feinstem Gold

Sein Hals ist ein zarter Stiel

Seine Augen sind die Augen einer Taube

Sein Leib ist leuchtendes Elfenbein

Seine Beine sind zwei Säulen aus Marmor

Er ist ganz und gar mein Entzücken

Sergio Leone: Es war einmal in Amerika. Deborahs Ballettübungen
Auch der Erzähler in Prousts „Recherche“ macht in seiner ersten Liebe zu Gilberte Swann die Erfahrung des Leidens, der glühenden Projektionen, des illusionären Charakters seiner Gefühle, die vor der Zeit keinen Bestand haben. Schon am Anfang der „Recherche“ heißt es lapidar über das Denken und Fühlen, es seien „beides traurige Dinge“. Wenn de Niro in einer späteren Szene, nach einem zehnjährigen Gefängnisaufenthalt, Deborah ebenfalls aus dem Hohelied zitiert, weil nur der Gedanke an sie ihn die Zeit der Inhaftierung hat ertragen lassen, so macht er die desillusionierende Erfahrung, dass sie sich gegen ihn und für ihre Schauspielerkarriere entscheidet. Mittlerweile ist er zwar ein größerer Gangster geworden, der ein ganzes Hotel für das Abendessen mit seiner geliebten Deborah mieten kann, aber seine Worte haben den gleichen gebrochenen, wehmütigen Klang, zwar gehört, aber nicht erwidert zu werden.
Wie schön ist dein Gang in den Schuhen, du Fürstentochter

Dein Nabel ist ein runder Becher, dem es niemals an Wein mangelt

Dein Schoß ist wie eine Garbe Kornähren, von Lilien umstanden

Deine Brüste sind Trauben am Weinstock

Dein Atem ist wie der zarte Duft der Äpfel

David Aaronson, der jüdische Name des Autors Harry Grey, auf dessen Buch „The Hoods“ das Drehbuch von „Once upon a time in America“ beruht, sieht „Noodles“ alias „Robert Williams“ am Ende um sein Geld, seine Freundschaft und seine Liebe betrogen. Im Hebräischen bedeutet Aaron „Schrein“, in dem in der Synagoge die Gesetzesrollen (Tora) aufbewahrt werden. Der Schrein von Robert Williams, sein Koffer bzw. 35 Jahre seines Lebens sind nicht voller Millionen, voller Geld, sein Koffer ist leer. Das Gesetz der Freundschaft und die Verbrecherehre ist von Max gebrochen worden. Was „Noodles“ aber bis zum Ende von diesem unterscheidet, ist sein nicht korrumpierbarer Glaube an seine eigenen Gefühle der Freundschaft und der Liebe.