Das Sixpack am Sonntag
Aus den unendlichen Weiten meiner Bücherregale lasse ich an diesem trüben Novembersonntag sechs Bücher herausfallen und scanne deren Buchumschläge. Vielleicht erhellt das Licht der Literatur die nebelverhangene Düsternis, die sich über das Land gelegt hat. In zwei anderen Ländern, von denen der eine erst um den Status Staat kämpft und der andere sich in diesem bedroht fühlt, hält gerade der Krieg Einzug. Lesen und Bücher allein haben sich jedoch leider noch nicht als das geeignete Mittel gegen Krieg herausgestellt. Ich lasse hier von den Büchern nur kurz die leeren Hüllen, ihre geschminkten Gesichter, für sie selbst sprechen. Das ästhetische Prinzip dabei ist ganz allein meine subjektive Auswahl mit der Intention, neue oder erneute Neugierde zu wecken. Einige Umschläge verweisen auf eine Bezugsquelle. Ich werde versuchen, jeden Sonntag durch meine riesigen Hallen zu wandeln und ein neues Sixpack zusammenzustellen. Mit einem physischen, das nicht nur aus Papier wäre, kann mein Körper leider nicht mehr aufwarten.
Weil ich den Anfang des letzten Buches, die Biographie über Paula Modersohn-Becker von Kerstin Decker, sehr gelungen finde, hier die beiden ersten Absätze daraus, die das Gemälde auf dem Umschlag beschreiben:
Mai 1906
Sie steht vor dem Spiegel ihres kleinen Ateliers in der Avenue du Maine 14, nicht weit vom Jardin du Luxembourg Montparnasse, das neue Malerviertel von Paris. Nur die Impressionisten wohnen noch am Montmartre. Garderobe, Bord, Tisch und Bett, grob gezimmert von diesem bulgarischen Bildhauer, von dessen Existenz ihr Mann schon im letzten Jahr mit Missvergnügen hörte. Bloß das Nötigste ist im Zimmer. Draußen wartet der Mai. Sie ist im Begriff, eine Revolution zu beginnen, und weiß es nicht.
Am Ende des Tages wird die Revolution vollbracht sein. Aber man sieht ihr die Aufrührerin nicht an. Denn Paula Modersohn-Becker ist, was Revolutionäre nur selten sind: vollkommen allein. Das ist sie jetzt öfter, tagelang. Und sie ist unbewaffnet, ganz wehrlos – also nackt. Nackt bis auf die lange Bernsteinkette, die ihr über die Brust fällt – sie liebt Bernsteinketten –, und das dünne Tuch um die Hüften. Natürlich waren die Frauen der Revolution schon immer unzureichend bekleidet. Eugène Delacroix´ Freiheitsgöttin etwa, diese Trikolore-Fahnenläuferin mit dem herabgefallenen Hemd. Aber die hat ein Mann gemalt. Immer haben Männer unbekleidete Frauen gemalt.
aus Kerstin Decker: Paula Modersohn-Becker. Eine Biographie. Berlin: Propyläen 2007. S. 9
Wenn ich könnte, verehrter Bücherblogger, würde ich heute bei Ihnen mindestens vier „Gefällt mir“-Buttons klicken – und einen fünften mit Doppelklick für die wahrlich gelungene Biographie von Kerstin Decker über Paula Modersohn-Becker. Der Band hatte mich seinerzeit inspiriert, Paula Modersohn-Beckers Briefe und Tagebücher erneut zu lesen – das persönliche Zeugnis einer Malerdichterin.
Einen geruhsamen Lektüresonntag wünscht Karin von KAINe Kolumnen
Ihre Erwähnung der Briefe und Tagebücher ist doch eine schöne Anregung, mich mit ihr, über ihr malerisches Schaffen hinaus, auch als Schreibende zu befassen. Bisher ein Manko. Was Kerstin Decker betrifft schreibt sie ja weiter fleissig Biographien: Else Lasker-Schüler, Lou Andreas-Salomé oder jetzt über das Verhältnis von Nietzsche und Wagner. Mann und Frau sollten sie im Auge behalten. Der Sonntag war wirklich geruhsam, zum Lesen komme ich dennoch immer erst abends im Bett, dann ist wieder eine Story aus Alice Munros „Zu viel Glück“ dran.
Herzlichen Gruß
Der Buecherblogger
Was für eine schöne Übereinstimmung: Auch hier ist es neblig-trüb, auch hier begleitete einen Blogeintrag heute ein Bild von Paula Modersohn-Becker. (Mit meiner Mama fuhr ich im März 2011 nach Bremen und wir besuchten auch das Paula Modersohn-Becker-Museum. Es war unsere erste zweisame Reise. Sie wird mir immer in wunderbarer Erinnerung bleiben. Wir waren uns nah und gelassen miteinander. Wir waren Mutter und Tochter, ganz entspannt. Wir besuchten auch Worpswedes und Paula Modersohn-Beckers Grabstätte. Ich bin so froh und dankbar, dass wir das hatten. Ich hoffe, wir werden noch einige solcher Reisen zusammen unternehmen können. Aber diese, die kann uns keiner mehr nehmen.)
By the way: Das Ebook, mit dem ich sehr zufrieden bin, kann das nicht: diese Bilderfülle in einen grauen Tag fallen lassen, die Stofflichkeit und das Taktile, „die Schminke“, durch deren Schau erst deutlich wird, dass es Tage gibt, an denen es nicht ratsam ist, ganz „ungeschminkt“ dazustehen, nicht einmal für Bücher ;-).
Ich freue mich an diesem Sixpack. („Als wir Pop-Poetinnen waren…“ nannten wir einmal eine Gedichtsammlung ´Six Sixpacks´. Damals war die Körperpolizeipolitik weniger vorangeschritten und wir dachten bei Sixpack ausschließlich an sechs Dosenbiere.)
Ich hatte das Bild auf Ihrer Seite heute morgen kurz gesehen, aber den Beitrag über die Freundinnen der Mutter noch nicht gelesen. Frühstück und Presseclub haben mich davon abgehalten. Jetzt wurde das nachgeholt. Fühlen Sie sich geschmeichelt oder auch nicht, aber schon lange denke ich, dass Sie immer dann, wenn sie etwas „Familiäres“ schreiben einen besonderen Ton treffen. Neben einer durchaus schneidenden Analyse schwingen ganz unbeschreiblich Ihre Gefühle in den Zwischenräumen mit. Also diese Beiträge liebe ich schon seit langem. Außerdem korrespondieren sie mit einem Abschnitt im „Punk Pygmalion“, wo vom Aufwachsen der beiden jugendlichen Mädchen in den Häusern gegenüber berichtet wird. Das Verhältnis der beiden zueinander und zu den Eltern wird auch dort grandios erzählt. Also ich will Ihnen nicht nur billig schmeicheln, ich halte eben gerade diese Art des Erzählens für eine sehr große Stärke. Ich wünschte mir, so trivial oder etwas bieder das klingt, sie würden etwas Längeres in dieser Familienform schreiben. Naja, das „Sixpack“ war natürlich nur so ein Alliterationsgedanke am Sonntag und gibt mir jetzt die Gelegenheit zu bekennen, dass meine Beine schöner sind als mein Bauch. Ich habe natürlich die Ausstellung über Paula Modersohn-Becker im Landesmuseum Hannover vor ein paar Jahren besucht und war auch schon in Worpswede. Ich sollte einmal wieder in die Landesgalerie gehen und den Impressionisten einen Besuch abstatten. Apropos e-book, der Kindle Fire müsste doch auch Farbe können.
Herzliche Sonntagabendgrüße
Der Buecherblogger