Ein alter Tintenfisch

Tintenfisch_19_1980Es war einmal ein alter Tintenfisch, der lag vergessen im Bücherregal. Schon halb ausgetrocknet fristete er  dort sein seit Jahrzehnten völlig unbeachtetes Dasein. Einst hatte er mit seinem Geburtsjahr ein neues Jahrzehnt eingeläutet und kostete damals neun Deutsche Mark und achtzig Pfennige. Man kennt ihn heute genauso wenig, wie diese ungültige, fast vergessene Währung. Er war das neunzehnte Exemplar, der neunzehnte Nachkomme aus der Familie der Quarthefte und wurde 1980 geboren. Die Literatur begnügte sich in seinem Geburtsjahr noch damit, modern zu sein, nicht postmodern. Man jagte Terroristen in Deutschland und die Literatur glaubte, politisch etwas verändern zu können. Das merkt man den Aphorismen, Essays, Erzählungen und Gedichten in diesem Jahrbuch an. Die Autoren begreifen sich als Teil einer Gesellschaft, gegen deren Unterdrückungspraktiken und sich ausbreitende Mittelmäßigkeit zwecks Veränderung kritisch angeschrieben wird. Vielleicht jagt der Tintenfisch auf dem Umschlag die mittelmäßigen Ärsche, die ständig auf der Flucht sind. Innen auf der Frontispiz-Graphik ‚Ungleiches Paar‘ von Nikolaus Heidelbach umarmt der tintenschwarze Tintenfisch tanzend eine nackte, rundliche Dame in lebensfroher Hochstimmung zur Musik aus einem Kofferradio. Nix Walkman oder Smartphone, nein, zu der Zeit gab es das eine gerade eben erst und das andere noch gar nicht. Auf dem Titelblatt wird der spätere Verlagsleiter bei Hanser Michael Krüger noch als Mitherausgeber neben Klaus Wagenbach genannt, als Herausgeber der “Edition Tintenfisch” weiter vorn Hans Christoph Buch. Politisch gesehen kommt es mir so vor, als lebten wir verglichen mit damals in einer bürgerlich restaurativen Phase, in der die Mittelmäßigkeit des sich selbst nivellierenden Marktes herrscht und die des Einzelnen ersetzt hat. Ein subversiver Hauch gegen die Anpassung und für die Lebendigkeit schwebte damals über den Zeilen. Ich blättere das Inhaltsverzeichnis auf und wundere mich über die doch vielen illustren Namen arrivierter Schriftsteller und einiger Schriftstellerinnen. Welchen Schicksalen man in einem solchen Jahrbuch auf die Spur kommt. Ursula Krechel, mit dem Roman “Landgericht” erst kürzlich erfolgreich, ist mit einem Gedicht vertreten, während Gisela Elsner einen fiktiven Antwortbrief von Kafkas Vater an seinen Sohn schrieb und sich gut zehn Jahre später das Leben nahm. Viele Namen springen mir ins Gesicht, bekannte und unbekannte. Schlägt man sie in Wikipedia nach, hat man ein kleines biographisches Kompendium der Autoren, die nicht nur damals die deutsche Literaturlandschaft prägten: einige schillern, andere sind vergessen.  Es bleibt schade, dass der Tintenfisch nach zwanzig Jahren 1987 sein Erscheinen einstellte. Die Absatzzahlen sanken rapide und kontinuierlich. Die Zeit solcher Jahrbücher scheint vorbei. Ich fand noch einen alten Verlagsprospekt aus dem Hause Wagenbach darin. Ein lesender Mann mit Hut hat eine Waage neben sich. Gut, dass das physikalische Gewicht eines Buches so herzlich wenig über seine Bedeutung aussagt. Ich empfinde dieses Jahrbuch als ein gelungenes Konglomerat literarischen Zeitgeistes mit seinen diversen Auszügen aus größeren Prosawerken, Gedichtbänden, Theaterstücken und bissweilen witzigen und bissigen Fußnoten. Sogar eine fünfzehnseitige kleine Bibliographie “1979 erschienener Bücher deutschsprachiger Autoren” findet sich am Ende, der Buchmarkt muss wirklich noch überschaubar gewesen sein.
Als Zugabe ein Gedicht von Peter Rühmkorf aus seinem Gedichtband “Haltbar bis Ende 1999”:
Manchmal fragt man sich: ist das das Leben?
Manchmal weiß man nicht, ist dies das Wesen?
Wenn du aufwachst, ist die Klappe zu.
Nichts eratmet, alles angelesen,
siehe, das bist du.
Und du denkst vielleicht: ich gehe unter.
bodenlos und fürchterlich –:
Einer aus dem großen Graupelhaufen,
nur um einen kleinen Flicken bunter,
siehe, das bin ich.
Aber dann, aufeinmalso, beim Schlendern,
lockert sich die Dichtung, bricht die Schale,
fliegen Funken zwischen Hut und Schuh:
Dieser ganz bestimmte Schlenker aus der Richtung,
dieser Stich ins Unnormale,
was nur einmal ist und auch nicht umzuändern:
siehe, das bist du.