Joseph Czapski: Proust. Vorträge im Lager Grjasowez

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Der polnische Maler und Schriftsteller Joseph Czapski hält im sowjetischen Gefangenenlager 1940/41 Vorträge über Marcel Proust´s “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”. Ohne jeglichen Zugang zu Büchern, nur aus dem eigenen Gedächtnis heraus, berichtet er über seine Leseerfahrung seit 1924, als er das erste Mal Proust´s Monumentalwerk las, zu dem er nicht gleich den Zugang fand. Ich möchte diesen schmalen Band, ein Essay von 60 Seiten, der mehr literaturwissenschaftlich professionellen Biographie Jean-Yves Tadiés gegenüberstellen. Dort füllen allein mehr als ein Viertel des 1260 Seiten langen Buches den Anhang aus Kommentaren und Registern. Äpfel mit Birnen vergleichen, könnte man einwerfen, aber ich will darauf hinaus, das beide so unterschiedliche Ansätze im Grunde nichts anderes wollen, als die unglaubliche literarische Leistung Prousts zu würdigen. Czapski hat nur seine Erinnerung, keine wissenschaftliche Bibliothek. Er steht allein in den Wänden des Gefangenenlagers, die den abgedichteten Korkwänden des hypersensiblen Prousts ähneln, der Literaturprofessor Tadié hat eine ganze Universität um sich herum. Czapski erklärt aus der Sicht eines gebildeten Malers und Künstlers und referiert mit einfachen Mitteln über die beiden Hauptthemen in der “Recherche”: das französische Gesellschaftsbild der Zeit um die Jahrhundertwende und die menschlichen Beziehungsgeflechte dieser Zeit. Er erinnert sich an seine Lektüre, wie sich Proust an die Bruchstücke seines eigenen Lebens erinnerte, die er zu seinem Roman verwandelte. Das verloren gegangene polnische Manuskript hatte mehr Ähnlichkeit mit dem Umschlag der Ausgabe der Friedenauer Presse, heute würden wir dazu  auf gut Deutsch Miniflipchart sagen. Später wurde daraus ein Schreibmaschinenexemplar in französischer Sprache, das 1947 dann das erste Mal in Frankreich erschien. 2006 erscheint es in deutscher Sprache. Die Sekundärliteratur zu Proust ist bodenlos und deshalb kann ich diesen Vortrag als Einführung oder Bereicherung des Verständnisses von Proust nur empfehlen. Es gibt ein wunderbares Zeugnis davon, wie Literatur und Lesen Rettung und Überleben sein kann. Im hohen Alter von 97 Jahren ist Joseph Czapski 1993 gestorben, sein im Umfang kleines, aber doch großes Buch sollte nicht in Vergessenheit geraten. Selbst der wissenschaftliche Tadié schreibt zum Tode Prousts sentimental:
”Auch wir richten unseren Abschiedsgruß an den, der so sehr gelitten hat, damit die Sonne seines Werkes erstrahle, jetzt, da sie ihm nicht mehr weh tut.” Joseph Czapski verweist mit dem letzten Wort seines Essays zurück auf eine weibliche Figur bei Proust, an der dieser in den letzten Tagen  im November 1922 gearbeitet haben soll: “Forcheville”.

Rezensionen: Frankfurter Rundschau, Ina Hartwig
                    Deutschlandfunk, Brigitte van Kann