Benjamin Stein: “Die Leinwand” oder Literatur im Dienste des Religiösen

Wechsler  Benjamin-Stein-Die-Leinwand                                                                  
Einen kurzen Eindruck von einem Autor zu bekommen, kann nicht verkehrt sein, noch dazu wenn er in der kurzen Stellungnahme auf die ihm naheliegende Erzählform verweist, in der auch sein letztes Buch “Die Leinwand” von ihm geschrieben wurde: die Ich-Form.

Was liest Benjamin Stein gerade? Zwei Empfehlungen von ihm: Video starten.

Ich möchte der Kritik oder den Lektüreaussagen über sein Buch vorwegschicken, dass es mir mehr als fern liegt, Herrn Stein persönlich in seinem Glauben zu verletzen oder irgendeine Relativierung der deutschen Schuld gegenüber der Vernichtung des jüdischen Volkes während des Zweiten Weltkrieges oder gleichfalls eine Relativierung der Unrechtsdiktatur der ehemaligen DDR vorzunehmen. Andererseits sollte die Glaubenszugehörigkeit eines Autors auch kein Grund sein, sein Buch unbedingt wohlwollend zu beurteilen. Die Kritiken waren bisher alle positiv, soweit ich sie kenne, und es kann gleichzeitig kein Kriterium für Literaturbesprechungen sein, einem Autor aufgrund seiner Religion von Kritik freizusprechen oder ihn zu schonen.

Das Buch mit den zwei Einstiegen zum Wenden kommt ungewöhnlich daher, weil es kein Hinten und kein Vorne gibt, das Ende findet in diesem Fall in der Mitte statt. Zwei Bücher hat Benjamin Stein mit zwei Protagonisten über sich selbst geschrieben, die auf der Suche nach ihrer Identität sind. Zwei fiktive Lebensläufe sind es, letztlich, vor allem im zweiten Teil spiegelt sich der Autor selbst. Ich habe mit dem Teil über Amnon Zichroni begonnen, der in Israel, später in der Schweiz und den USA auf streng religiöse Schulen geschickt wird, Psychoanalytiker in Zürich wird und am Schluss wieder nach Israel, die Heimat seines Glaubens, zurückkehrt. Ein bisschen setzt Benjamin Stein auch auf das Krimigenre, denn auf dem vorderen und hinteren Buchdeckel sind geheimnisvoll zwei Gegenstände, ein paar Handschuhe und ein Pilotenkoffer abgebildet. Das erweckt den Eindruck von Beweismitteln für eine mögliche Straftat. In Amnon Zichroni nun imaginiert sich der Autor mit seinem Ich-Erzähler in einen orthodox in der Nähe von Jerusalem aufwachsenden Jungen und erzählt von seinem häuslichen Leben und seinem Schulalltag auf einer streng-religiösen Jeschiwa [“religiöse Schule für Jugendliche”].

Ohne das in der Mitte des Buches sich befindende Glossar jüdischer Ausdrücke, wäre dieser Teil kaum noch lesbar, weil er von den relativ ungebrochen im Text verwobenen Fremdwörtern nur so durchsetzt ist. Nicht jedes Wort ist dort erklärt, sonst wäre das Glossar wohl zu dick geworden,  also erklärt der Erzähler im Text auch selbst. Ganze Einführungen in jüdisch-religiöses Leben werden gegeben. Dieses Begriffswörterbuch nennt sich Glossar, nicht jüdisches Glossar. Bis auf zwei Begriffe sind alle hebräisch oder jiddisch, nur zwei arabische Erklärungen gibt es, die sich also auf andere Religionen beziehen. Auf Seite W.113 aber findet sich der islamische Begriff Fatwa, sicher eine Kleinigkeit, aber der ist nicht erklärt. Im Grunde genommen ist das auch logisch, denn im Buch ist fast ausschließlich nur vom jüdischen Glauben die Rede, die Palästinenser werden als drohende Gefahr beschrieben. Wenn ein orthodoxer Jude sich auf palästinensisches Gebiet wagte, würde er möglicherweise ermordet.

Von Identität und vom orthodoxen Judentum ist in diesem zweiten Roman von Benjamin Stein die Rede. Meine Neugier siegte über das Unbehagen, das einen zwar evangelisch-lutherisch Erzogenen befällt, der sich aber schon vor 30 Jahren aus dem Bannkreis der Kirche durch Austritt entfernt hat, und dem jede sich übermäßig deutlich machende Religionszugehörigkeit erst einmal verdächtig erscheint. Ich wittere stets Bekehrung, die ich, leider muss ich es schon jetzt sagen, auch in diesem Roman unterschwellig als Subtext und Überzeugung gefunden habe.
Beide Teile fangen mit einem Bibliotheksthema an. Nach dem Lesen des ersten Kapitels war ich überrascht über die durchaus nicht prätentiöse, lockere Erzählweise, mit der die hermetische Glaubenswelt des Vaters Amnon Zichronis, in der weltliche Bücher in seinem Arbeitszimmer verschlossen bleiben wie in einem Giftschrank, auch mit einem Schuss Ironie erzählt wird. Zunächst amüsant ist es, wenn der junge Zichroni ausgerechnet den homosexuellen Schriftsteller Oscar Wilde mit seinem “Bildnis des Dorian Gray” entdeckt und zum Anfang seiner weltlichen Leseerlebnisse macht. Genauso ergeht es dem jungen Jan Wechsler in der DDR, wo an Westlektüre in keiner Bücherei heranzukommen ist, als beim Klassenfeind, der Bibliothek der Amerikanischen Botschaft. Diese Emanzipation aus der Enge einer zensierten Bücherwelt ist in beiden Fällen gelungen beschrieben und hat mir natürlich auch aufgrund des Sujets Bücher gefallen.

Gespannt wartete ich bei der Ausbildung des jüdischen jungen Mannes später in seinem Werdegang zum Psychoanalytiker auf eine Konfrontation mit der als ständige Bedrohung dargestellten Welt der Ungläubigen, eine Beschreibung des Schuldigwerdens in dieser oft verteufelten Außenwelt. Aber der Zögling oder der spätere Student bleibt stets ein brav die Gesetze der Thora Befolgender. Überhaupt scheint es in dieser religiösen Welt keine wirklichen Sünden zu geben, das einzig Erstrebenswerte ist die religiöse Reinheit. Der etwas weniger strenge Onkel in Zürich, zu dem der junge Zichroni geschickt wird, weil er sich für das zu streng Orthodoxe als untauglich erwiesen hat, heißt ausgerechnet Onkel Nathan (der Weise).
In die Entwicklung- und Bildungsgeschichte Zichronis kommt erst dann Fahrt, als er aus den USA zurückkehrt und nach dem Tod dieses Onkels dessen nicht unerhebliches Erbe antritt und eine psychoanalytische Praxis eröffnet. Zwei Fälle werden eingehender dargestellt. Lauren wird von ihrer Magersucht durch die Heilkräfte Zichronis befreit und bei Minsky (Binjamin Wilkomirski) gelingt ihm scheinbar die Verarbeitung und Aufdeckung seiner jüdischen Kindheit in Konzentrationslagern wie Majdanek und Auschwitz. Mit einem einfachen Trick gelingt es Benjamin Stein, zwischen seinen Protagonisten Nähe aufrecht zu erhalten. Mit Detailkenntnis werden bestimmte Gegenstände zum Thema gemacht, Demantoiden, Geigen, wertvolle Uhren, sie alle dienen dazu wie in diesem Falle bei Zichroni/Minsky die Restauration älterer Geigen, in einer bestimmten gediegenen Atmosphäre den Plot zusammenzuhalten. Ich möchte hier auf die Inhaltsangabe weitestgehend verzichten, weil das schon von anderer Seite hinlänglich geschehen ist, siehe die Rezensionshinweise unten.

Der Zichroni-Teil verharrt konsequent in einer Erzählhaltung, für die alle weltliche Versuchung des Satans ist. Diese simple Schwarz-Weiß-Darstellung, diese ständige Erwähnung des Wortes “der Ewige”, ein Euphemismus für das neutralere Wort Gott, ist mir zumindest nach einigen Kapiteln auf die Nerven gegangen. Aber religiösen Lesern und Leserinnen mag es da anders gehen, ich bin an dieser Stelle empfindlich und nihilistisch vorbelastet.
Auch Wissenschaft und Schulmedizin werden gegen religiöse Heilkräfte ausgespielt. Verlieben bedeutet bei seinem Kommilitonen Eli, eine den religiösen Regeln entsprechende jüdische Ehe einzugehen. Subjektiv hatte ich nach hundert Seiten das Gefühl einen Subtext zwischen den Zeilen zu lesen und einer unterschwelligen Indoktrination beizuwohnen. Amnon Zichroni hat die Fähigkeit, in der Psyche anderer Personen ihre Erinnerungen, bzw. mit fast telepathischen Fähigkeiten deren Gefühle und Gedanken nachzuempfinden. Was uns hier als Gabe vorgeführt wird und den Protagonisten später sogar zum allerdings scheiternden Psychoanalytiker werden lässt, ist aber nichts anderes als die allen Menschen gemeinsame Eigenschaft der Empathie. Mag sie auch unterschiedlich ausgeprägt sein, aber hier wird sie märchenhaft überhöht.

Die entscheidenden Sätze in diesem Verwirrspiel der Identitäten finden wir dann auch schon auf der ersten Seite:

“Unsere Erinnerungen sind es, die uns zu dem machen, was wir sind. Unser Gedächtnis ist der wahre Sitz unseres Ich.”

Aber ist diese Prämisse, die auch den Titel erklärt, die “Leinwand”, also unser Ich sei nur eine Projektionsfläche unserer Erinnerungen überhaupt richtig? Weitergedacht impliziert das den Gedanken, alle Kunst wäre projizierte Erinnerung. In der Literatur im Imperfekt geronnene Zeit. Nur an wenigen Stellen wechselt der Erzähler ins Präsens, um eine psychische Not eines Protagonisten zu steigern. Nachdem Wechsler von seiner Frau und den Kindern verlassen wurde und am Ende bei der inquisitorischen Befragung durch die israelische Einwanderungspolizei. Besteht der Mensch aber nicht auch aus einem unverrückbar seit der Geburt festgelegten materiellen Teil, sein Körper? Bestimmt nicht auch das Sein, also die Außenwelt, das Bewusstsein? Die Soziologie wird gegenüber Psychoanalyse und Religion ohnehin in dem Roman vernachlässigt. Laut dieser Prämisse könnte aus jedem mit einer Amnesie auch ein anderer werden. Allein durch ein rituelles Tauchbad (Mikwe) erfährt man den Wechsel der eigenen Identität. Der Mystizismus mag seine Anziehungskraft haben, aber allein mir fehlt der Glaube an diese Art von Erneuerung der eigenen Person. Wenn ich jetzt ganz ketzerisch wäre, würde ich behaupten, die Mikwe ist eine religiöse Einrichtung, die Amnesie zur Folge hat, aber so böse will ich gar nicht sein. Merkwürdig aber ist es schon, dass ausgerechnet das Wasser, wie bei den Christen die Taufe, den Menschen zu einem anderen werden lässt, implizit natürlich zu einem Besseren. Was dem Leser als Mord Zichronis an Wechsler oder umgekehrt als Mord Wechslers an Zichroni suggeriert wird, ist in Wahrheit nichts anderes als die Konvertierung Jan Wechslers. Der blonde Schweizer mit der doppelten Vergangenheit Schweiz und DDR wird zum Alter Ego des orthodox mit Familie in München lebenden Autors Benjamin Stein. Das Verbrechen war nichts als die Geburtsstunde eines gläubigen, neuen Menschen. Ich erinnere mich einmal von einer wissenschaftlichen Evolutionstheorie gelesen zu haben, die besagte, dass alles Leben aus dem Wasser und somit auch der haarige Affe Mensch ursprünglich aus dem Wasser geboren sei. In den Religionen scheint sich dieser Vorgang als mythisches Relikt erhalten zu haben und immer noch schwimmt der menschliche Fötus in einer mit Flüssigkeit gefüllten Fruchtblase.

Es mag das Identitätsproblem des Autors gelöst haben, von nun an jüdisch-orthodox zu leben, die komplexen Probleme des 21. Jahrhunderts löst man mit einem Rückzug ins Orthodoxe jedenfalls nicht. Dieses Gemisch aus sich bis zum Persönlichkeitsschwund auflösenden Erinnerungen bleibt eine ganz persönliche, individuelle Veranstaltung. Wo bleibt die Erwähnung und die Toleranz gegenüber anderen Religionen, Islam, Buddhismus, katholisches und evangelisches Christentum oder auch den immer mehr wachsenden Anteil Religionsloser, als Atheisten oder Nihilisten bezeichneten Menschen? Ich finde, Literatur sollte keinen orthodoxen Horizont haben. Der Kanon orthodox-jüdischer Lebensweisen soll aus dem Chaos und Unheil der Moderne herausführen?

Ein anderes Thema: Das ganze Unverständnis, die Ignoranz der Religionen Tieren gegenüber wird am Anfang des Kapitels Wechsler 9 deutlich. Es befasst sich eingangs mit dem unter einer Taubenplage leidenden Restaurant, das seine Küchenabfälle im Hinterhof lagert, ein Paradies der Nahrung für Tauben. Man schützt sich nun vor dieser Plage, indem ein Netz über den Hinterhof gespannt wird. Aber immer noch landen Tauben im Paradies der Nahrungsaufnahme, müssen dann aber eingefangen werden oder sie erdreisten sich auf der Flucht gegen die Fensterscheiben der Wechslerschen Wohnung zu fliegen oder gar in die Innenräume. Für die Kinder sind sie das Böse. Nun aber weist Jan Wechsler sie darauf hin, dass sie es nach Aussage des Maschgiach [jüdischer Aufseher] mit einem Gerechten bei dieser Taube zu tun haben. Was vermutlich mit dem späteren Symbol der Taube für Frieden im christlichen Glauben zu tun hat. Den Kindern wird diese symbolische Überhöhung beigebracht. Warum besteht die Lösung nicht profan und ganz diesseitig in einer vielleicht aufwendigeren, aber besser geschützten Lagerung der Abfälle seitens des Restaurants?
Tiere sind für sämtliche Religionen untergeordnete Kreaturen und höchstens für Sinnbilder tauglich. Von der ganzen Opferproblematik oder dem im Judentum üblichen koscheren Essen und das damit verbundene Schächten einmal ganz abgesehen. Das Wenige, was ich über koscheres Essen weiß, ist, dass Juden kein Blut essen dürfen und deshalb die geschlachteten Tiere qualvoll langsam ausbluten müssen, damit sogenanntes reines Fleisch erzeugt wird. Nur auf die eigene anthropozentrische Reinheit kommt es an, nicht auf die Grausamkeit gegenüber dem Tier. Zum anderen darf ein Jude keine Milchprodukte und Fleisch zusammen essen, getrennt  ist das Fleisch allerdings wiederum kein Problem. Auch das Panthergedicht von Rilke wird an drei Stellen lediglich als bildhaftes Gefängnis des Menschen gesehen, nicht als das eines Tieres. An anderer Stelle gibt es eine Erklärung über koscheres Essen, das in seiner Reinheit die Seelenwanderung der Gerechten gewährleisten würde. Ein Tier scheint in den Religionen dazu bestimmt, für das Herrenvolk des Menschen zum Verzehr nützlich zu sein. Der Mensch als Krone der Schöpfung. Judentum und auch der Katholizismus sind innerhalb der Kirchen streng hierarchisch gegliedert. So wie es den Abstand zwischen Mensch und Tier gibt, gibt es ihn auch zwischen Mann und Frau.
Es herrscht ein Prinzip der Unter- und Einordnung. Ich frage mich, ob die gesamte strenge Konstruktion des Romans diese Strukturen nicht unbewusst abbildet. 

Zur Form: Ijoma Mangold bezeichnet den Roman in der Zeit sogar als eine “multioptionale Bastelbiografie der Postmoderne – nur unter entgegengesetzten Vorzeichen: als der Versuch, die Restriktionen zu erhöhen – in Freiheit die Gebundenheit zu wählen.”
Zumindest was die formale Ausführung und die Sprache des Romans angeht, möchte ich dem heftig widersprechen. Geschrieben ist er eher konservativ in der Erzähltradition des 19. Jahrhunderts. Postmoderne Erzählformen wie Sprachexperiment, innerer Monolog, Collagetechniken, wechselnde Erzähler kommen überhaupt nicht vor. Darüber kann auch die nette Aufmachung als Wendebuch nicht hinwegtäuschen. Hier wird in jeweiliger Ich-Form eine Geschichte heruntererzählt, die zwar Identitätsbrüche zulässt, sich dazu an den authentischen Fall
Binjamin Wilkomirski anlehnt, aber im Verhältnis zu “alten” Romanen der Moderne des 20. Jahrhunderts wie “Ulysses” oder den gerade von mir gelesenen Roman “Rayuela” sprachlich doch auf einer weit harmloseren Stufe anzusiedeln ist. Das Ende der Kapitel gibt dann auch üblicherweise eine Art Conclusio oder Resümee, das in einem kurzen Satz gekonnt kulminiert, aber eben nicht unbedingt innovativ ist. Diesen Roman mit der Postmoderne in Verbindung zu bringen halte ich für falsch.

Der Roman feiert die religiöse Tradition des Judentums, den identitätsstiftenden Weg zum rechten Glauben. Für einen Ansatz zur Toleranz zwischen den Religionen oder gar zwischen Gläubigen und Ungläubigen wird nicht explizit geworben. Anstatt Aufklärung und Wissenschaft wird einem modernen Mystizismus das Wort geredet und bei aller gekonnten Erzähltechnik mit vorhandenem Spannungsaufbau bleibt dieses Buch Literatur im Dienste des Religiösen.
Vielleicht habe ich nicht einmal tausend Bücher gelesen, aber Menschen, die sich aus religiösen Gründen nur auf ein Buch, eine Schrift berufen, die auch noch mehr als zweitausend Jahre alt ist, sind mir unheimlich.
Die Identität und die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gemeinschaft bestimmt in diesem Roman allein der Glaube. Der Glaube an den Ewigen soll das allein seligmachende, das identitätsstiftende Moment sein. Nicht “Cogito ergo sum” (Ich denke also bin ich), sondern “Iustus enim fide vivit” (Der Gerechte lebt nämlich durch den Glauben) ist das versteckte Motto.
Mein Einwand bleibt, dass Religion zwar identitätsstiftend sein kann, aber ihr fehlt zumindest in der Orthodoxie der Begriff der Freiheit. Auch wenn sich das Christentum als auf dem alten Testament und damit dem jüdischen Glauben verwandt und als Mitbegründerin aufklärerischen Gedankenguts sieht, ist die Aufklärung gerade ein Schritt der Befreiung von den Religionen gewesen. Säkularisierung, Trennung von Staat und Kirche, sind gegen die Kirche errungen worden. Glaube ist nicht nur der naive, an das Gute glaubende gewesen, sondern war immer auch mit Indoktrination und Intoleranz gegenüber Andersdenkenden bis hin zu Kriegen verbunden. Kirche habe ich nie als Freiheit empfunden, vielleicht noch als Schutz bietenden Raum. So werden auch in der “Leinwand” geistige Räume als Schutzräume begriffen. Insofern mag dieses Buch mehr für die Gläubigen geschrieben sein und nicht für mich. Der Autor hat seine religiöse Identität gefunden, aber ich hätte mir gewünscht, seine Antwort auf die Welt wäre eine weniger hermetische gewesen.

”Reichtum und Ehre kommen von Gott” heißt es an einer Stelle von Jan Wechsler. Bei durchaus vorhandener ironischen Brechung werde ich den Verdacht nicht los, dass der Autor selbst fest an eine Schicksalsbestimmung durch den Ewigen glaubt. Allein der Geburtstag (6. Juni) und andere Einzelheiten weisen Wechsler eindeutig als frühen Benjamin Stein aus. Insofern ist der Wechsler-Teil absolut autobiographisch. Zwei fiktive Lebensläufe des Autors, die nicht auf einen Mord, sondern auf die endgültige Identitätsfindung im Glauben hinauslaufen. Am Ende führt er die beiden Identitäten Wechslers zusammen, vorher werden sie zu einer Doppelgänger-Geschichte mit Krimianteilen à la Hitchcocks “Vertigo” verwoben. Nur was der Film an visuellen Effekten zu bieten hat, verläuft sich hier in einer eher harmlosen, in der Handlung zwar gut erzählten, aber doch brav wirkenden Geschichte, die den Leser lediglich dadurch fesselt, sich zu fragen, wer ist wer. In zwei Teilen mit jeweils 11 Kapiteln spiegelt sich der Autor selbst, in einer nicht deckungsgleichen aber wie im Traum empfundenen möglichen eigenen Vita. Der durchaus vorhandene ironische Abstand in der Beschreibung ist mir nicht weit genug. Der Ansatz zur Ehrlichkeit parodiert sich zwar auch selbst, die DDR zum Beispiel wird in ihrem Mangel und ihrer Leistungsbezogenheit karikiert. Die Richtung, in der dies geschieht, heißt aber immer nur jüdischer Glaube. Dabei bleibt der Autor an einer bekannten Sozialismuskritik und Beschreibungen des konservativen Konsens hängen, dass an der DDR-Diktatur außer dem Heimatgefühl natürlich nichts gut gewesen sein könnte, geschweige denn zu einer Utopie taugen würde. Die Schilderung der Einreise Wechslers nach Israel erinnerte mich kurioserweise an die Einreiseformalitäten in der DDR.

Witzig fand ich bei einigen Kritiken die Seitenangabe von 212 Seiten für das Buch. Da kann ja nur jeweils ein Teil gemeint sein. Das ganze Buch besteht aber nach Autopsie und grober Schätzung aus bemerkenswerten 416 Seiten, ob nun mit oder ohne doppeltem Glossar.

Das Buch hat mich im Zwiespalt zurückgelassen. Streckenweise durchaus spannende Unterhaltung und in der Konstruktion und an der Erzählweise ist, wenn man sie als solche akzeptiert, nichts auszusetzen. Aber die Darstellung der jüdischen Religion als die allein seligmachende ist mir zu einseitig gewesen. Warum wird die Verarbeitung von dokumentarischem Material, der “Fall Wilkomirski”, nicht offen erwähnt? Das hat eine Art Hegemanneffekt. Auf der einen Seite nötigt mir die konsequent orthodoxe Lebensweise des  Autors in einer gänzlich anders gearteten Welt Respekt ab, aber gleichzeitig kommt sie mir wie die absurde Verweigerung vor den wirklichen Problemen des Planeten Erde vor. Der religiöse Standpunkt des jeweiligen Erzählers und auch des Autors steht schon von Beginn des Romans an felsenfest.
Wird nicht die ganze kriminalistisch aufbereitete Identitätssuche dazu benutzt, einen religiös motivierten Blick, ein mystifizierendes Weltbild vor dem Leser auszubreiten und ihn zum selbigen zu bekehren? Der Roman mag Identitätsspiel sein, aber eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Welt des 21. Jahrhunderts, mit den Herausforderungen medialer Kultur, der Kommerzialisierung, den politischen und ökologischen Fragen, der großen theologischen Frage eines toleranten Nebeneinanders aller Religionen und aller ohne Religionszugehörigkeit Lebenden wird zu wenig spürbar. Eine Antwort auf die Zukunftsfragen der Menschheit kann eine einzelne Religion nicht geben. Hier ist eine religiös-hermetische, lediglich aus den Glaubenssätzen einer Schrift geborene Weltsicht am Werk. Die Figuren kämpfen nicht mit der Sinnlosigkeit der Welt, sondern nur mit ihren persönlichen Erinnerungen. Ein Skeptizismus gegenüber jeglicher Heilslehre kommt mir im Buch zu kurz. Was allein zählt scheint die individuelle Selbstfindung in einer jüdisch-orthodoxen Lebensweise zu sein, wie gemäßigt sie sich auch nach außen gibt.

Sein neuer Roman mit dem Arbeitstitel “Diamond District” soll mit dem Satz beginnen: “Meist wasche ich die Toten nachts.
Bei aller Widersprüchlichkeit und Reibung während meiner Lektüre, der Autor ist ein guter Erzähler, aber hoffentlich erzählt er uns auch einmal etwas anderes als einen religiös erbauungsvollen Ich-Roman.
Die Entstehungsgeschichte des Romans kann man im Weblog von Benjamin Stein nachlesen. Vermutlich würde er sich nach der Lektüre dieses Beitrages genervt und lachend an den Kopf fassen und sagen: “Der muss ein anderes Buch gelesen haben.”

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Rezensionen:
Gregor Keuschnig Begleitschreiben
Ijoma Mangold Die Zeit
Julian Mieth Berliner Literaturkritik
Armin Steigenberger Berliner Literaturkritik
Anja Hirsch FAZ
Aléa Torik Literarisches Weblog