Roberto Bolaño: Stern in der Ferne

Stern in der Ferne

Spät als Fischer Taschenbuchausgabe 2010 habe ich jetzt den schon im Original als “Estrella distante” 1996 und als deutsche Übersetzung im Jahr 2000 erschienenen kurzen Roman “Stern in der Ferne” gelesen. Es gibt somit bereits viele gute Rezensionen und ich könnte über das Buch oder überhaupt über Bücher auch schweigen, über alles kann man schweigen, über Chile jedoch, den weit zurückliegenden Stern einer chilenischen Kindheit und Jugend, das Trauma der Militärdiktatur Pinochets konnte Roberto Bolaño nicht schweigen. Das grausame Schicksal der vielen Ermordeten dieser beinahe zwei Jahrzehnte musste literarisch verarbeitet werden. Aus unterschiedlichen Perspektiven und mit diversen Protagonisten reiben sich viele seiner Bücher an der politischen Vergangenheit seines Geburtslandes. “Amuleto”, “Chilenisches Nachtstück” und “Die Naziliteratur in Amerika”, einer Sammlung von fiktiven Biographien faschistoider Schriftsteller. Aus einer dieser kurzen Lebensläufe ist der vorliegende Roman hervorgegangen. Dass die Literatur selbst, das Versagen der kulturellen Elite des Landes und das chilenische Volk an den Ereignissen eine Mitschuld trägt, seine eigene Verstrickung und spätere Rolle eines fernen Zuschauers aus Spanien, hat einen Zwiespalt in seinem Verhältnis zum eigenen Vaterland hervorgerufen.
Mit geradezu sprudelnder Erzählkunst und nicht enden wollender Phantasie werden die Jahre der Diktatur in der Gestalt des psychopathischen Mörders und Luft-Poeten Carlos Wieder aus der Erinnerung wachgerufen. Der schreibt krude Sprüche und Gedichte mit seiner Messerschmidt in den Himmel über Santiago de Chile und ist gleichzeitig führender Agent des Regimes und skrupelloser Mörder. Wie immer bei Bolaño ist es jedoch nicht nur ein Psychogramm des politischen Wahnsinns, sondern auch das der Faszination, die von einer solchen Figur ausgeht. Dass der Wahnsinn eines Einzelnen ein ganzes Volk ergreifen kann, sollten wir Deutsche am besten wissen. Das Perverse der Hauptfigur aber ist, dass sie sich schriftstellerisch, ja poetisch betätigt, eine Verstrickung der Literatur als Handlanger der Politik. Auffällig ist auch das immer wiederkehrende Eingangsszenario der Schreibwerkstätten, Bolaño rekrutiert in vielen seiner Werke auf die eigenen schriftstellerischen Anfänge. Absolut bewundernswert ist seine Fähigkeit ganze Biographien wie die von russischen Generälen des zweiten Weltkriegs nahtlos in den Text einfließen zu lassen, mit akribisch gesammelten, geschichtlichen Details. Eine Parallele zum “Chilenischen Nachtstück” fiel mir noch auf. Auf dem Höhepunkt seiner politischen Laufbahn veranstaltet der Mörder Carlos Wieder eine Ausstellung mit Fotografien, auf denen seine eigenen Folterungen, Morde und Misshandlungen präsentiert werden. Bolaño beschreibt weniger die Exponate als den Schrecken der politischen Schickeria, sich im Spiegel betrachten zu müssen. Im “Nachtstück” gibt es einen Folterkeller im Haus eines kollaborierenden amerikanischen Ehepaares, über dem die politischen Größen des Landes ihre Feiern veranstalten. Nach dieser skandalösen Darbietung muss Wieder untertauchen und wird schließlich nach langer Verfolgung und dem Ende der Militärjunta ausgerechnet im spanischen Blanes, dem Wohnort Bolaños aufgespürt und zur Strecke gebracht. Das spielerische Zusammenführen politischer Geschichte mit Autobiographie kennzeichnet den Stil Bolaños. Wieder sieht weder wie ein Dichter noch wie ein Mörder aus, eher wie ein verlebter alter Dandy, dem man nur durch lange journalistische Recherche, denn er schrieb nach dem Untertauchen weiter, auf die Schliche kommt. Wieder ist eine Kunstfigur, in der sich viele Elemente des Faschismus wiederfinden, am Anfang und am Ende des Romans ist es eine heimtückisch bestechende: die Tarnung. So ist der Roman auch eine Warnung vor der ewigen Wiederkehr der gleichen faschistoiden Psychologie.
1973 war Ro-berto Bolaño selbst kurze Zeit in Chile inhaftiert. Der Name Carlos Wieder mag sich auf die Äußerung eines Mitgefangenen Nor-berto beziehen, der ausruft, nicht der Dritte Weltkrieg würde ausbrechen, sondern der Zweite immer wieder und wieder und wieder.

“Der verrückte Norberto krallte sich wie ein Affe an den Zaun, lachte, rief, der Zweite Weltkrieg sei auf die Erde zurückgekehrt, sie hätten sich getäuscht, die den Dritten erwartet haben, es sei der Zweite, der wieder- und wieder- und wiederkehre. Wir, die Chilenen, glücklich zu preisen vor allen anderen Völkern, seien dazu auserkoren, ihn zu empfangen und willkommen zu heißen, und der Speichel, ein sehr weißer Speichel, der mit dem vorherrschenden Grau kontrastierte, rann in seinen Bart, troff auf seinen Hemdkragen und sammelte sich als eine Art großer feuchter Fleck auf seiner Brust.”

Fischer Taschenbuch, 8,95 €