Die schwankende Brücke der Erinnerung

Vom Ende einer Geschichte

 

“Ich fand die Brücke schön. Ich fand es auch schön, wie sie wackelte. Meiner Meinung nach sollten wir ab und zu an den schwankenden Boden unter unseren Füßen erinnert werden.”

Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011. S. 111

 

 

Wenn schon im Titel vom Ende die Rede ist, wie dann beginnen, vielleicht so? Erinnerung kann nicht nur verblassen, sie kann auch trügen. Das, was der Protagonist Tony Webster in diesem Roman, der eher eine Novelle ist, erlebt, die Erosion seiner Gewissheiten, was seine Vergangenheit betrifft, diesen Prozess auf schwankendem Boden, vollzieht der Leser während seiner Lektüre ebenfalls nach. Lesen und Schreiben erscheint so als ein labiler Zustand der Ungewissheit, wie eine Geschichte enden könnte und ob ihr Ende überhaupt einen Sinn ergibt. Leider wird in der deutschen Übersetzung der Aspekt dieser Sinngebung, die in Frage gestellt und ironisiert wird, durch das Auslassen des Wortes “sense” nicht deutlich genug. Denn dass das Ende einer Geschichte einen Sinn ergeben kann, mag noch logisch erscheinen, das Leben selbst dagegen kennt den Begriff eines sinnvollen Endes nicht. Der Tod des Einzelnen, sein Ende, ergibt von anderen erzählt dem Leben vielleicht rückblickend Sinn, subjektiv bleibt er eine Katastrophe. Sinn und Vernunft ist also etwas, was quasi erzählerisch dem Chaos hinzugefügt wird. Zwar relativ konventionell erzählt, gelingt Barnes ein vergnügliches Spiel mit den Halbwahrheiten seines sich unsicher erinnernden Ich-Erzählers. Der Leser muss sich selbst ständig wie auf dem Boden einer schwankenden Brücke sein Puzzle einer möglicherweise dann “wahren” Geschichte zusammensetzen und es wird ihm bewusst, dass eigentlich jede Geschichte und jeder Roman, wenn das Leben also erzählt werden soll, zu viel Sinn macht. Dabei erinnerte ich mich an John Rivers Anfangssatz in  der Erzählung von Aldous Huxley “Das Genie und die Göttin”: “Das Fatale an Romanen ist, daß sie zuviel Sinn ergeben”, über dessen Richtigkeit als eröffnendes Bonmot es eine nette Diskussion seitens einer “Kunstfigur” an anderer Stelle gab. Aber stetig neurotisch auf eine alte juckende Blessur rekurrieren ist müßig. Doch die Blog-Unterhaltung dort drüben ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch andere in ihrer Beziehung zu virtuellen Kunstfiguren Veränderungen unterworfen waren.  Meiner Meinung nach aber, um ein Zitat von Barnes zu gebrauchen, klingt diese Unterscheidung zwischen Leben und Kunst, auch was diesen “Roman” betrifft,  zumindest “philosophisch evident”. Erzählerische Form ist immer nachträglich künstlicher Sinn, was man vom Leben selbst eben gerade nicht behaupten kann.

Aber halt, ich hätte meine Auslassungen, denn Kritiken und Empfehlungen lassen immer weg, auch anders beginnen können, etwa: Ich werde Atem holen und über dieses Buch in einem Stück erzählen, egal ob lang oder kurz. Normalerweise beginnt man mit Autor und Titel, skizziert den Inhalt, macht eine literarische Einordnung und gibt dann seine mehr oder weniger überzeugende Lobpreisung ab. Ich dagegen werde nur lose Gedanken auffädeln, denn “normale” Besprechungen dieses Buches gibt es bereits hunderte und seinen persönlichen Sinn muss ohnehin der jeweilige Leser selbst dem Geschriebenen hinzufügen. Barnes_Vom_Ende

Ist es nicht merkwürdig, dass wir beim Lesen immer unsere ganzen bisherigen Lektüren im Hinterkopf haben, ein Fundus der Vergleichsmöglichkeiten? Nach den ersten vierzig Seiten dieser etwas längeren Erzählung, die sich auf dem Umschlag zwar  Roman nennt, aber Roman möchte heute jeder sein und sei es ein Blog oder gleich das ganze eigene Leben selbst, fühlte ich mich ein wenig wie auf einen Stuhl zwischen Aldous Huxley und Ford Madox Ford gesetzt. Es ist auch in diesem Text die von Ford bekannte Unzuverlässigkeit des Erzählers, die mich an Ford Madox Fords allertraurigste Geschichte erinnerte und die dazwischen geschobenen philosophischen und literarischen Spitzfindigkeiten schienen mir die charakteristische  weitläufige, englische, intellektuelle Intelligenz eines Huxley-Textes zu besitzen. Barnes schätzt Ford Madox Ford literarisch sehr hoch und nicht umsonst hat die Familie der Freundin des Erzählers Veronica im Buch den Nachnamen Ford erhalten. So elegant witzig der Ich-Erzähler Tony Webster auch zu erzählen vermag, man gewinnt den Eindruck, leicht beschwindelt zu werden, da macht sich doch jemand etwas vor. Auch so um die Seite vierzig herum wird dann auch das erste Mal ein imaginäres Gegenüber mit “Du” angesprochen, sodass man den Eindruck einer Beichte gewinnt, als hätte der Ich-Erzähler sich an dem Adressaten oder einer anderen Person schuldig gemacht. Das ist die von Ford übernommene Position eines Erzählers, die immer verspricht interessant zu sein, denn sie lässt ihn einerseits spektakulär von seinen “Sünden” berichten, andererseits bezweifelt er seine eigene Sichtweise des Erzählten selbst. Mal wirkt er grausam, mal beleidigt in seinem rückblickenden Urteil über sich und seine Kommilitonen oder fühlt sich auch in seiner ersten Beziehung zu einem weiblichen Wesen irgendwie in der Defensive und zurückgesetzt. Das verbittert ihn, lässt ihn sich über deren Gefühle erheben und nur ihnen charakterliche Fehler vorwerfen. Gleichzeitig spürt er aber, mit dieser Haltung scheitern zu können, insofern er seine Sichtweise und Version des Erzählten beginnt selbst zu bezweifeln. Von Anfang an beschlich mich beim  Erzähler und seinen Anekdoten aus der Schulzeit das Gefühl, es mit einem unangenehmen, die Wahrheit womöglich sich zurechtbiegenden Charakter zu tun zu haben, der  wenig sympathisch wirkte. Sein Verhältnis zu dem an Intelligenz überlegenen Neuen in der Klasse, Adrian Finn, der zu einer bestehenden Dreierclique aus Alex, Colin und Tony selbst hinzustößt, ist von Neid geprägt. Denn nicht nur er, sondern auch seine erste Freundin Veronica entstammt einer sozial höher gestellten Familie, deren Mitglieder die Arroganz der Upper Class zeigen. 

Gekonnt hantiert Julian Barnes auch mit Metaphern und so steht das Bild des sich bei der Gezeitenwende umdrehenden Flusses, Severn bore, dafür, dass alles auch ganz anders hätte sein können, weil wie schon gesagt, die Erinnerung trügt. Die Zeit fließt eben nicht gemächlich in eine Richtung, sondern Erinnerung beeinflusst auch unsere Gegenwart und was wir Neues erfahren wiederum die Sicht der Vergangenheit. Es liegt eine Atmosphäre über dem Ganzen, als könne sich das Schicksal oder die Vergangenheit bei zunehmender Aufhellung und Aufklärung der Beziehungsverstrickungen auch gegen den Protagonisten richten.

Nun fragen Sie sich vielleicht schon geraume Zeit, wovon handelt das Buch denn nun eigentlich. Ich mache lediglich eine Aufzählung: Vier pubertierende, männliche Jugendliche in einem englischen College, erwachende Sexualität, das weibliche Objekt der Begierde in Form der Mitschülerin Veronica. Zunächst im ersten Teil befinden wir uns zeitlich im England der sechziger Jahre, wo der alte Schullehrer und der Vater Veronicas eine Art konservative Elterngeneration bilden, gegen die es zu revoltieren gilt. Dann kommen ein Selbstmord, eine normale Ehe mit gütlich normaler Scheidung, ein angedeuteter Missbrauch bzw. eine Doppelbeziehung zu Tochter und Mutter dazu, ein behindertes Kind usw. In diesem Beziehungsgeflecht bleibt vieles im Dunkeln. Die Kunst Julian Barnes ist es nun, Protagonist und Leser gleichermaßen nur langsam kleine Häppchen der Aufklärung zu geben. Vor uns wird die Welt als eine große Veranstaltung des Selbstbetruges ausgebreitet, auf die nur langsam Licht fällt. Dabei übt dieser angedeutet mephistophelische Zug Tony Websters, der mit allen Mitteln zum Beispiel um ein Tagebuch seines Jugendfreundes kämpft, das ihm laut eines Testaments zusteht, gerade den Reiz des Erzählten aus.

Auf Seite 136 findet sich eine schöne Ford Madox Ford-Relation:

“Es war eine ganz gewöhnliche traurige Geschichte – nur allzu vertraut – und mit schlichten Worten erzählt.”

Das weibliche Element wird vom Erzähler ziemlich missgünstig als verführerische Schlange eingeführt, denn nach kurzer Beziehung kommt es zu einem Bruch, dessen Ursache aus seiner Sicht selbstverständlich Veronica ist. Überhaupt verfällt er der weit verbreiteten männlichen Vorstellung, Frauen könne man grundsätzlich in zwei Kategorien einteilen, die der zu Langweiligen und die der Geheimnisvollen, wobei seine Exfrau Margaret eindeutig zu den bodenständig langweiligen und seine Jugendliebe Veronica zu den geheimnisvollen Frauen zählt. Mit seiner geschiedenen Frau hat er darüber hinaus eine Tochter Susie und ein konventionell abgeklärtes Verhältnis. Veronica aber lässt ihm auch als alter Mann von 62 Jahren im zweiten Teil keine Ruhe, bis sich sein Bild der hinterhältigen Jugendfreundin auf überraschende Weise zu ihren Gunsten wandelt.

An diversen Stellen im Buch wird der Begriff der Geschichte beleuchtet. Tony Webster interessiert sich für die beglaubigte, weiter zurückliegende Historie des Geschichtsunterrichts, weniger für die aktuelle politisch schwankende. Zum anderen wird natürlich auch die Geschichte als historische Wissenschaft gegen den Begriff der fiktiven Geschichte der Literatur gesetzt. Eine vom begabtesten Schüler Adrian Finn in einer Geschichtsstunde gegebene Definition von Sinn und Geschichte lautet dann auch:

Geschichte ist die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen.

Barnes schiebt diesen Aphorismus einem fiktiven französischen Historiker Patrick Lagrange zu, was seine erzählerische Raffinesse beweist. Literatur wirft mit ihrer oft nebulösen persönlichen Geschichte ein anderes, auf andere Art erhellendes Licht auf die Zeiten. Kurz assoziierte ich auch den Sachbuchtitel von Francis Fukuyama, der das “Das Ende der Geschichte” zu proklamieren meinte.

Am Schluss sucht man das passende Resümee für diese sehr lesenswerte Erzählung und kann nur ebenso wie bei Ford Madox Fords “allertraurigsten Geschichte” , den vielen Facetten des Buches die nachdrückliche Empfehlung hinterherschicken, es durch eigene Lektüre selbst zu würdigen. Es schien mir als zeitgenössischere Variante intellektuell schärfer als Ford, dafür mit etwas weniger Herz und Gefühl geschrieben, aber dennoch auf ähnlich hohem Niveau was die virtuose Handhabung der Erzählmittel betrifft. Julian Barnes bleibt ein ausgesprochen englischer und intellektueller Erzähler.

Iris Radischs Empfehlung bei der Zeit fand ich fürchterlich, in der sie das Buch zu einem durch und durch melancholischen abstempelte, dass vor dem Ende im Suizid oder einem unerfüllten Leben warnen solle. Schon sehr viel gelungener dagegen ist die “Auslese” von Johan Schloemann bei der Süddeutschen Zeitung.

Süddeutsche Zeitung, Literaturempfehlung für Julian Barnes “The sense of an ending”

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