Auf dem Spielbrett des alltäglichen Bösen II
George W. Bushs Begrifflichkeit von der “Achse des Bösen” war Projektion religiös begründeter Aufladung und einseitiger, ausschließlicher Schuldzuweisung, die auch vor den Mitteln der Lüge des Besitzes von Massenvernichtungswaffen nicht zurückschreckte, nur um eine Vorstellung vom Bösen aufrechtzuerhalten, die nicht mehr selbstreflexiv auch das eigene Potenzial des Bösen erkennt und nur im Feindbild neue Kraft und Zustimmung fand. Psychische Schutzmaßnahmen, monokausale Erklärungsversuche, die einer diffusen Vorstellung eines beinahe okkulten, esoterischen bösen Zentrums Raum geben.
Das Böse zum esoterisch-okkulten Zentrum der Werke Bolaños zu machen verfolgt zum Teil auch das Themenheft “Roberto Bolaño – Poet und Vagabund” des Schweizer Kulturmagazin “Du”. Schon auf dem Cover stilisiert es Bolaño zu einer Art Wüstenblumen-Desperado des Comic-Illustrators Benjamin Güdel und meint mit einem Besuch des Bolaño-Archivs in Blanes anhand biographischer Fundstücke sich dem Geheimnis seines Werkes besser nähern zu können. Heraus kommt ein oberflächliches Lavieren mit Klischees, Versatzstücken aus Legendenbildungen, das sich kaum bemüht, wirklich literaturkritisch zu arbeiten, marktgerechtes Feuilleton eben. So landet Bolaño neben der Werbung für Schweizer Patek Philippe und Cartier Uhren oder der Zürcher Kantonalbank. Produkte einer Sozialhierarchie, die seinem Produkt, der Poesie, nicht wirklich gut tun. Nicht viel Erhellendes und nicht viel Neues haben Stefan Zweifel und Michael Pfister auf den ca. fünfzig großformatigen Seiten Text, der von Abbildungen einiger Archivmanuskripte und alten Bolaño-Fotografien unterbrochen wird, zusammengetragen. Da wird Altbekanntes mystifiziert anstatt interpretiert und mit Verweisen auf vermeintliche formale Vorbilder wie Georges Perec und Guy Débord gearbeitet, ohne eine Sprach- oder Erzählanalyse zu leisten.. Den Mythos will man natürlich nicht durch eigene Meinung stören, schließlich gilt es den Markt der Bolañodechiffrierung zu befriedigen. Eine esoterische Erklärung wird immer noch besser als gar keine verkauft. Auch die bildende Kunst einer imaginären Bibliothek zum Werk Roberto Bolaños aus Holzblöcken des Künstlerduos Lutz & Guggisberg wirkt auf mich wie eine Verballhornung ins Humoreske, schlimmer noch die beiden erfundenen Klappentexte dazu. Die Originalklappentexte sind in ihrer marktkonformen, anreißerischen Art manchmal schon schlimm genug. Diese beiden fiktiven schaffen es aber noch, die realen in ihrer Naivität zu toppen, der eine macht auf Ökokrimi, der andere soll die Kindheit Hans Reiters (Benno von Archimboldi) an Küste und Meer parodieren. In Erinnerung an das noch nicht so ferne Debüt einer Fernsehliteratursendung möchte ich sagen: Fast so schlimm wie “Das blaue Sofa”.
Man findet noch Versatzstücke neu übersetzter, aber alter Interviews und eine Werkzusammenstellung von Stefan Zweifel, in der das “Chilenische Nachtstück” als “hammerharte Abrechnung“ [mit] Künstlern, die sich von der Macht kaufen lassen” bezeichnet wird. Von der Wortwahl einmal abgesehen, ein Vorwurf, den man auch dem Verlag des “Du”-Magazins selbst machen könnte. Alles in allem ein Fanzine für das Bildungsbürgertum, das gerne glauben möchte, quasi detektivisch hinter das Geheimnis Bolaños blicken zu können und Assoziationen wichtiger nimmt als schlichte Sprach- und Textanalyse. Man tritt die Flucht ins Geheimnisvolle an und hält sich mit der eigenen Meinung und einer kritischen Auseinandersetzung bedeckt.
Bei der Lektüre Bolaños sieht man sich zwar gelegentlich derselben Gefahr ausgesetzt, das Böse in etwas Mysteriöses, erst noch als okkultes Zentrum der Romane zu Findendes suchen zu wollen. Vergessen wird dabei aber der Teil des Bösen, der auf den Erzähler selbst oder den Protagonisten zurückweist. Dieser Teil in den Romanen beschäftigt sich mit dem anderen äquivalenten Begriff zum Bösen, der Schuld, von der sich auch der erzählende Protagonist nie befreien kann. Die Suche nach dem Mysterium des Bösen wendet sich also nicht nur nach Außen, sondern hat ihren Ursprung in der eigenen Psyche und in der Angst. Udo Berger will nicht begreifen, dass die von ihm übernommene Rolle der nationalsozialistischen Achsenmächte im Spiel ihn selbst korrumpiert, zumindest in den Augen derer, denen Deutschtümelei und faschistische Diktatur selbst böse mitgespielt haben, wie den Spaniern und dem Verbrannten. Dessen Entstellungen auch im Gesicht sind die Folge von Folterungen, möglicherweise auf dem lateinamerikanischen Kontinent, was Udo Berger noch nicht weiß. Eigentlich kann man den Roman auch als literarische Provokation so kurz nach dem Fall des Franco-Regimes in Spanien verstehen, in dem ausgerechnet ein Weltkriegsspielsüchtiger und deutschen Landesmeister zum Protagonisten, zum erzählenden Negativ-Alter Ego genommen wird.
Nach der Abreise seiner Freundin Ingeborg isoliert sich der deutsche Spanienurlauber immer mehr in seinem Hotelzimmer. Ein langsamer Zerfall seiner Persönlichkeit beginnt, dessen Ursache die Kriegsspielsucht und eine Art Verfolgungswahn ist. Eine menschliche Beziehungsleere, Trostlosigkeit und Melancholie treten noch hinzu. Mit dem Verbrannten (El Quemado) beginnt eine Art Spiel auf Leben und Tod für ihn, obwohl es sich doch nur um ein Brettspiel handelt. Der unheimliche, dunkle Gegner ist dabei nicht nur sein völlig unerfahrener, entstellter Spielpartner, sondern auch der todkranke Ehemann von Frau Else, der Hotelchefin, in die er sich hoffnungslos verliebt hat, die ihm jedoch nur ein paar Küsse gewährt und sich stets zurück zu ziehen weiß. Wie der Tod selbst haust der Ehemann in seinem Schlafgemach und unterstützt den Verbrannten im Kriegsspiel. Ersatz verschafft sich Bergers männliche Libido in Form des Zimmermädchens Clarita, mit der er schläft und an der er seine sowohl körperliche als auch bildungsmäßige Überlegenheit beweisen kann. Auch in diesem frühen Roman werden sexuelle Handlungen beiläufig und machohaft herablassend erwähnt, was aber der Konstitution des Protagonisten gerecht wird. Er wirkt auf der einen Seite verzweifelt verliebt, auf der anderen seiner Freundin Ingeborg gegenüber bindungsunfähig. So weit wie seine beiden grobschlächtigen Bekanntschaften und Gelegenheitsarbeiter El Lobo und El Cordero, die nicht davor zurückschrecken, ihre männlichen Gewaltphantasien soweit auszuleben, dass es zu einer Beinahevergewaltigung des Zimmermädchens kommt, geht Udo Berger allerdings nicht. Seine sexuellen Wünsche beschränken sich auf postkoitale Phantasien der kleinen Spanierin gegenüber, die ihm “den Schwanz und den Arsch lecken” soll. Das Kapitel mit der sich langsam steigernden Bedrohung Claritas durch El Lobo und El Cordero, die schon was Hanna und Ingeborg anging, unter Vergewaltigungsverdacht standen und nun das Zimmermädchen bedrängen, ist erzählerisch sehr gelungen. Unwillkürlich werden Assoziationen mit jüngsten Verwicklungen eines französischen Politikers in New York hervorgerufen. In letzter Sekunde verhindert Udo Berger eine Vergewaltigung und scheint sich der Übergriffe seiner Urlaubskumpanen doch zu schämen. Exemplarisch wird das Entstehen von männlicher Gewalt vorgeführt und weist auf den vierten Teil von “2666” voraus. Unkontrollierte männliche Sexualität bleibt Bedrohung und ein Puzzlestein für den Ursprung des Bösen. Das Psychogramm des Kriegspielers schlägt aus der Leere und Sinnlosigkeit sogar an einer Stelle in einen kleinen Gewaltausbruch Udo Bergers um, wo er zerschlagen durch die Straßen des Ortes läuft und die kurze Bekanntschaft eines jungen Mannes macht, den er zwar besucht, aber angewidert die Treppe herunter schubst. Realitätsverlust, ein Urlaub, der zum Albtraum wird, ein paralleler Absturz von persönlicher und Weltgeschichte. Nach dem verlorenen Spiel bleibt die Rache des Gefolterten (Verbrannten) aus. Der Kapitulation des Verlierers folgt beinahe eine Läuterung, die jedoch in der Verwandlung Bergers in eine lethargische, leblose Hülle besteht. Der Tod des Mannes von Frau Else, keine Aussicht auf jedwedes Liebesglück, weder mit Ingeborg noch mit Frau Else. Die Seele ist kalt geworden, selbst das Schreiben des Tagebuchs versiegt am Ende in stenogrammartigen Kapiteln, eher sporadischen auch zeitlich weiter auseinander liegenden Einträgen. Ein desillusioniertes Dasein, “das Gleiche wie immer” erinnert an Nietzsche. Er schenkt dem Verbrannten das Spiel und beendet geräuschlos den Urlaub, um zurück nach Deutschland zu verschwinden. Auf einem Spielerkongress wandelt er als Fremder durch die Hallen. Das Universum Bolaños war also von Anfang an kein behagliches, aber die Welt ist auch immer nur insoweit klaustrophobisch, als wir sie lediglich als solche wahrnehmen können.
Noch ein paar Worte zum vorangestellten Motto des Buches. Warum die Sätze aus Friedrich Dürrenmatts Erzählung “Die Panne” nur verkürzt wiedergegeben werden, ist mir unklar. Auf der Titelseite eines frühen Manuskripts Bolaños steht es auf Spanisch noch ungekürzt. Vollständig lautet die Stelle bei Dürrenmatt:
»Wir spielen mit den Gästen des Richters, die unsere Angeklagten abgeben«, fuhr der Verteidiger fort, nachdem er sich wieder gesetzt hatte, »bald mit Hausierern, bald mit Ferienreisenden, und vor zwei Monaten durften wir gar einen deutschen General zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilen. Er kam hier durchgewandert mit seiner Gattin, nur meine Kunst rettete ihn vor dem Galgen.«
Auch in Dürrenmatts Erzählung geht es um Schuld, drei pensionierte Juristen halten spielerisch Gericht über einen Durchreisenden, der am Tod eines von ihm betrogenen Ehemannes mehr im Spaß für schuldig befunden wird. Am Ende erhängt er sich nach dieser “virtuellen” Gerichtsverhandlung. Die Parallele zum Spiel, das reale, gewaltsame Folgen hat, ist unübersehbar.
Die beiden Ebenen des Kriegsspiels, der Weltkriegsgeschichte und der Urlaubsbedrohungen, die auch aus unterschiedlichen Kulturmentalitäten herrührt, werden ständig auch erzählerisch gegeneinander gesetzt und erzeugen ein Gefühl dauernder Verunsicherung beim Leser. Über allem liegt ein Geruch der Bedrohung. Frau Else warnt Udo in einem längeren Dialog über das Spiel: “Eine seltsame Landkarte. Sie gefällt mir nicht. Sie riecht schlecht. … Die Karte. Und die Spielmarken. Eigentlich riecht alles schlecht in deinem Zimmer.”
Diese Atmosphäre schaffen zu können, ist die eigentliche erzählerische Leistung. Das Wundern darüber, wie diese zustande kommt, darf man jedoch nicht als etwas Okkultes oder Esoterisches vermuten, es ist schlicht Erzählkunst und Bolañeskes Erzählgerüst. Diese Erzählsystematik oder Erzählhaltung stand also von Anfang an fest. Es spricht eine Art Anti-Alter Ego, in das viel vom Autoren-Ich in den Erzählfluss mündet und anhand dessen Schicksals auch das eigene zum menschlich exemplarischen wird, egal ob die Protagonisten nun Amalfitano, Juan Garcia Madero, Hans Reiter alias Archimboldi oder Udo Berger heißen.
Mein letzter Rat: Lesen Sie weniger ü b e r Bolaño, lesen Sie seine Bücher unvoreingenommen selbst. Die vielen Erzählungen und seine beiden großen Romane und wenn Sie nicht mehr anders können, lesen Sie alles, was sie von ihm in die Finger kriegen. Große Autoren brauchen unersättliche Leser. Am Ende werden Sie etwas von einen Schneemann haben, der unerschrocken und ohne zu schmelzen durch die Wüste läuft.
s. a. Leonie Meyer-Krentler: “Ein Roman als Kriegsspiel” und “Ein James Dean war er nicht”
Lieber Dietmar,
ich finde das ganz ausgezeichnet, wie Sie sich um Roberto Bolaño kümmern. Eigentlich müsste der Sie mal zu einem Kaffee einladen. Das kann er nicht mehr. Aber Sie können ja einmal etwas darüber schreiben, wie es aussähe, wenn er das doch könnte. Wenn er Ihnen dann erklären will, was er eigentlich mit seinen Roman sagen wollte. Oder etwas in der Art, etwas Ironisches vielleicht, dass er Sie drängt, dieses oder jenes über ihn zu schreiben und Sie mitten in der Nacht anruft, um sich mit Ihnen zu beraten. Naja, vielleicht ist Ihnen das auch zu doof.
Sie wissen, dass Bolaño nicht wirklich mein Fall ist. Das liegt auch daran, dass ich meine Interessen bündeln muss und dabei fällt dann einiges heraus. Mir gefällt seine Sprache nicht. Anders als die von Mircea Cărtărescu, die sehr viel artifizieller ist. Aber davon abgesehen, von biografischem Umständen abgesehen – Cărtărescu stammt aus einem unfreien Land und musste mir der Freiheit umzugehen lernen – könnten die beiden einander durchaus etwas zu sagen haben. Beide, wenn ich Bolaño richtig verstehe, schreiben nicht nur Romane, sie konstruieren eine Welt. Beide Autoren legen dem Leser nicht nur einen Text vor, sondern ein Verständnis von der Welt. Und beide sind einander darin ähnlich, dass sie der Auffassung sind, dass man diese Welt nur so verstehen könne, als eine Schrift, die man entziffern muss.
Herzlich
Aléa
Liebe Aléa,
„doof“ finde ich Ihre Idee eines Treffens mit Bolaño überhaupt nicht, ich nehme das als sehr willkommene Anregung so etwas in dem nächsten „Ulrich-Text“ (Sie wissen schon, Literarische Begegnungen der dritten Art. 10) einfließen zu lassen. Eigentlich treffe ich Bolaño ja ständig da, wo er selbst es wohl am liebsten gehabt hätte, in seinen Büchern. Überhaupt Cărtărescu mit Bolaño zu vergleichen, ein weites, vielleicht gewagtes Feld Vergleichender Literaturwissenschaft, aber die und auch feuilletonistische Rezensionen betreibe ich hier ja nicht. Ich verschränke hier meinen Kopf anstelle der Arme oder so. Apropos Freiheit der beiden, wer lebt schon in einem freien Land, die Freiheit wird immer ein Desiderat, ein angestrebtes Mögliches sein. Philosophisch gesehen würde ich kühn behaupten, das Sein macht uns von allein zu Gefangenen, die politischen Verhältnisse können das allerdings sehr verschärfen.
Ich habe immer mehr Lust, die beiden übersetzten Orbitorbände zu lesen, das liegt wahrscheinlich an meiner Schwäche für die großen, mächtigen Monumentalromane wie etwa von Proust, Musil und Joyce, aber auch Bolaños „2666“ oder Cărtărescus „Orbitor“. Es hat etwas vom Bergsteigen, diese Werke zu lesen, zu erobern. Ich meine damit nicht, am Ende auf allen Gipfeln zu stehen, sondern eine Art literarisches Bezwingen, ein schwieriger Aufstieg, dem auch ein ebensolcher Abstieg folgen mag. In den großen Romanentwürfen steckt nicht nur Lebenszeit und kostbare Arbeit, sie sind wie ein Spektrum der Welt, das aus den zwei Augen des Autors tausend Augen sprechen lässt. Manchmal scheint diese Vielfalt in einem einzigen fulminanten Satz zu kulminieren, aber der erhält seine Bedeutung wiederum nur durch das Ganze.
Was halten sie von einem Deal (ein Wort, das ich nicht mag und mir dennoch in den Kopf kommt): Ich lese Orbitor und sie „2666“. Die Sprache, ich weiß, Sie halten manche Stellen für grob oder gar sexistisch, der Ton ist Ihnen vielleicht nicht elaboriert genug, Sie selbst beschreiben sexuelle Vorgänge sicher filigraner, aber das ist nun mal Bolaño, ein kleiner Teil davon, reine Poesie nebem Eingeweiderealismus. Das trifft die zwei Seiten der Welt ganz gut. Ja, und noch etwas traue ich mir kaum zu sagen, Sie bezaubern mich mit fast jedem Ihrer Texte. So, jetzt ist es raus. Bei mir hier kann ich ja offen reden, liest eh kaum einer.
Sie bekommen noch ein Buch von mir, das dürfen Sie dann auch jahrelang in die hinterste Ecke legen. Also eine für Sie unverfängliche Adresse an mich und ab geht die Post.
Herzliche Abendgrüsse
Dietmar
Lieber Dietmar,
ich fürchte, dass ich mich auf den vorgeschlagenen Deal nicht einlassen kann, es sei denn, Sie lesen den dritten Teil (Haha). Im Ernst: ich habe in den kommenden Monaten kaum Zeit, noch andere Dinge zu lesen, als das, was bei mir schon auf dem Zettel steht.
Was ich bei Cărtărescu empfehlen würde: werfen Sie vorher einen ausführlichen Blick hinein. Das ist recht abstrakt. Es mag auch sein, dass Ihnen das nicht gefällt. Ich finde, was er macht, sehr groß. Aber das Große ist ja nicht immer ein Vergnügen. Es ist dann ein Vergnügen, wenn man das Erkennen dieser Größe als eines empfindet.
Vielen Dank auch noch für das Kompliment! Ich bin gespannt, was Sie zu meinem Roman sagen. Merken Sie sich bitte dieses Kapitel „Es war dasselbe, es fühlte sich nur vollkommen anders an“. Mit dem hätte ich gerne Maja Haderlap auf dem Rennen gekegelt. Aber ich war nicht eingeladen. Das Ganze ist eben keine freie Veranstaltung, sie müssen jemanden kennen, der sie einlädt.
Die unverfängliche Adresse ist meine eigene. Ich erinnere mich, dass ich das Buch gewonnen habe. Kann ich es noch ein wenig bei Ihnen liegen lassen? Ich kann es gerade nicht lesen. Ich weiß nicht, wo ich die kommenden Wochen bin. Ich habe ein Urlaubssemester und ich weiß nicht, ob ich in Berlin bleibe. Am liebsten wäre mir eine abgeschiedene Insel. Aber die Inseln, die es in Berlin gibt, sind nicht sehr abgeschieden, die sind alles andere als das.
Aléa
Liebe Aléa,
ich habe gerade das erste Kapitel von „Die Wissenden“ gelesen und bin schwer beeindruckt von der poetischen, bilderreichen Sprache Cărtărescus. So wird die Erfahrung der Verschandelung der Bukarester Stadtarchitektur in den siebziger Jahren durch Plattenbauten, den Körper der Stadt, der gleichzeitig der eigene ist, niemand noch einmal beschreiben. Ihre Sorge, ich könnte an der Lektüre keinen Gefallen finden oder die Größe nicht wahrnehmen, ist unbegründet.
Ihr Buch dürfen Sie selbstverständlich so lange hier liegen lassen, wie Sie möchten. Genauer genommen s t e h t es im Regal hinter mir und damit es sich wohlfühlt, so lange es das nicht bei Ihnen kann, habe ich die „Windstriche“ von Paul Valéry neben die „Nadja“ gestellt. Nun hat es passende Gesellschaft und kann sich vielleicht gelegentlich unterhalten, denn Bücher sprechen, wie Sie meinem letzten Beitrag unschwer entnehmen können.
Auf Ihr Buch bin ich auch sehr gespannt, ich hoffe auf das Frühjahrsprogramm des Osburg Verlages und vielleicht schaffen Sie es nächstes Jahr nach Klagenfurt. Welchen Literaturkritiker soll ich für einen Vorschlag mit Emails vollschütten bis er aufgibt? Zum bekannter werden, wäre das ein Schritt, aber ob es auch Ihr Ziel sein sollte, daran zweifle ich.
Bei der „abgeschiedenen Insel“ fiel mir natürlich die Pfaueninsel ein, aber alle Inseln sind touristisch erschlossen und die Pfaueninsel ist auch nur etwas für den Frühling und Sommer, aber man kann gut auf ihr wandern. Museumsinsel, aber die hat keinen weißen, einsamen Strand. Ich fahre im Oktober oder Anfang November noch zur „Gesichter der Renaissance“-Ausstellung. Jedes Kunstwerk, jedes Buch und auch der Mensch selbst ist eine Insel für sich.
Um auf Valéry zurück zu kommen, ich blätterte ein wenig und stieß auf einen Satz zur Politik:
„Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.“
Das scheint mir noch heute zu stimmen.
Dietmar
„