Roberto Bolaño: Gómez Palacio (deutsch)
Nach Gómez Palacio ging ich in einer der schlechtesten Phasen meines Lebens. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt und wusste, dass meine Tage in Mexiko gezählt waren.
Mein Freund Montero, der für die Kunstakademie arbeitete, hatte mir einen Dozentenjob in der Schreibwerkstatt von Gómez Palacio besorgt, dieser Stadt mit einem schrecklichen Namen. Die Anstellung brachte zunächst eine Rundreise mit sich, um mit den von der Kunstakademie in dieser Region verbreiteten Schreibwerkstätten vertraut zu werden. „Fängt wie ein Urlaub im Norden an“, sagte mir Montero, „anschließend kannst du zum Arbeiten nach Gómez Palacio gehen und all deine Sorgen vergessen.“ Ich weiß nicht, warum ich akzeptierte. Ich wusste, dass ich unter keinen Umständen in Gómez Palacio hängen bleiben würde. Ich würde keinen Literaturkurs in irgendeinem verlorenen Kaff im Norden Mexikos leiten.
Eines Morgens verließ ich Mexiko Stadt in einem Bus vollgestopft mit Leuten und begann meine Tour. Ich blieb in San Luis Potosí, in Aguascalientes, in Guanajuato, in Léon, die Reihenfolge mag falsch sein und weder weiß ich in welcher Stadt ich zuerst war, noch wie viele Tage ich mich dort aufhielt. Dann blieb ich noch in Torreón, in Saltillo und in Durango. Schließlich, in Gómez Palacio angekommen, besuchte ich die Einrichtungen der Kunstakademie und machte mich mit jenen bekannt, die meine Schüler sein sollten. Trotz der Hitze war ich ständig am Zittern. Die Direktorin, eine glupschäugige Frau, mollig und mittleren Alters trug ein großes mit beinahe allen Blumen des Landes bedrucktes Kleid. Sie brachte mich in einem Motel am Rande der Stadt unter. Ein grässliches Hotel in der Nähe einer Autobahn, die nirgendwohin führte.
Vormittags holte sie mich jedes Mal ab. Sie hatte ein riesiges, himmelblaues Auto und einen sehr waghalsigen Fahrstil, obwohl sie im Allgemeinen nicht schlecht fuhr. Es war ein Automatik-Wagen und ihre Füße reichten kaum bis zu den Pedalen. Regelmäßig hielten wir zuerst bei einem Autobahnrestaurant, das von meinem Motel aus in der Ferne als rötlicher Lichtbogen am gelbblauen Horizont sichtbar war. Dort nahmen wir ein Frühstück mit Orangensaft und Eiern auf mexikanische Art gefolgt von zahlreichen Tassen Kaffee zu uns, das von der Direktorin mit Gutscheinen der Kunstakademie bezahlt wurde (vermutlich), nie mit Bargeld.
Dann lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und begann über ihr Leben in dieser Stadt des Nordens zu sprechen und über ihre Gedichte, die in einem von der Kunstakademie unterstützten Kleinverlag erschienen waren. Des weiteren von ihrem Ehemann, der weder von der Berufung einer Dichterin, noch von dem Leiden, das diese Berufung mit sich bringt, etwas verstand. Während sie sprach, hörte ich nicht auf, eine Bali-Zigarette nach der anderen zu rauchen, betrachtete die Fernstraße durch das Fenster und dachte über das Desaster nach, das mein Leben war. Danach stiegen wir wieder in ihr Auto und setzten uns schnell zur Zentrale der Kunstakademie in Gómez Palacio in Bewegung. Ein zweistöckiges Gebäude ohne jeglichen Reiz außer einem nicht gepflasterten Innenhof mit nur drei Bäumen und einem verlassenen oder halbfertigen Garten, in dem es von Jugendlichen wie Zombies wimmelte, die Malerei, Musik und Literatur studierten. Das erste Mal, als ich dort war, hatte ich von dem Innenhof keine Notiz genommen, das zweite Mal brachte er mich zum Zittern. All das macht keinen Sinn, dachte ich, aber tief in mir wusste ich, dass es Sinn machte und dieses Wissen zerriss mir das Herz, um einen etwas exaltierten Ausdruck an dieser Stelle zu benutzen. Andererseits, nichts schien übertrieben. Vielleicht brachte ich aber nur Sinn und Notwendigkeit durcheinander. Vielleicht war ich auch nur ein Nervenbündel.
In den Nächten fiel es mir schwer zu schlafen. Ich hatte Albträume. Bevor ich mich in mein Schlafzimmer begab, kontrollierte ich, dass die Türen und Fenster meines Zimmers fest verschlossen waren. Mir trocknete der Mund aus und die einzige Lösung war Wasser zu trinken. Ich stand ständig auf und ging ins Bad, um mein Glas erneut mit Wasser zu füllen. Andauernd aufstehend nutzte ich die Gelegenheit und überprüfte einmal mehr, ob ich die Fenster und Türen wirklich fest verschlossen hatte. Zeitweise vergaß ich meine Sorgen und verharrte die nächtliche Wüste beobachtend am Fenster. Dann kehrte ich ins Bett zurück und schloss meine Augen. Da ich aber so viel Wasser getrunken hatte, dauerte es nicht lange, bis ich wieder aufstehen und pinkeln musste. Und sobald ich mich erhoben hatte, fing ich wieder an die Schlösser des Raumes zu kontrollieren. Ich blieb stehen, um den fernen Geräuschen der Wüste zu lauschen (den schallgedämpften Motoren der Wagen, die in Richtung Norden oder Süden vorstießen) oder um die Nacht jenseits des Fensters zu betrachten. Erst im Morgengrauen fand ich die Kraft, einige Stunden durchgehend zu schlafen, zwei oder drei höchstens.
Eines Morgens, wir frühstückten, erkundigte sich die Direktorin nach dem Zustand meiner Augen. „Das kommt weil ich wenig schlafe“, sagte ich ihr. „Ja, sie sind gerötet“, sagte sie und wechselte das Thema. Am gleichen Nachmittag auf der Rückfahrt zu meinem Hotel, fragte sie mich, ob ich nicht für eine Weile selbst fahren wollte. „Ich habe keine Ahnung wie man fährt“, sagte ich ihr. Sie brach in Lachen aus und bremste auf dem Standstreifen. Ein Kühllastwagen fuhr auf unserer Seite vorbei. Auf weißem Hintergrund stand in Sichtweite mit großen blauen Buchstaben zu lesen: „FLEISCH VON DER WITWE PADILLAS“.[1] Er kam aus Monterrey und der Fahrer starrte uns mit einem Interesse an, das mir maßlos erschien. Die Direktorin öffnete ihre Tür und stieg aus. „Setz dich auf den Fahrersitz“, sagte sie. Ich gehorchte ihr. Somit überließ sie mir für die Rückfahrt das Lenkrad. Dann setzte sie sich auf den Beifahrersitz und befahl mir loszufahren.
Eine ganze Zeit lang fuhren wir durch den grauen Stadtrand, der Gómez Palacio mit meinem Motel verband. Dort angekommen hielt ich nicht an. Ich sah zur Direktorin hinüber; aber die lächelte. Sie hatte nichts dagegen, dass ich noch ein bisschen weiter fuhr. Bis jetzt hatten wir hauptsächlich schweigend die Fahrbahn betrachtet. Sobald aber das Hotel hinter uns lag, begann sie über ihre Gedichte zu sprechen, über ihre Arbeit und über ihren wenig verständnisvollen Ehemann. Als ihr Gerede leiser wurde, stellte sie den Kassettenrecorder an und legte das Band einer Sängerin ein, die Rancheras[2] sang. Ihre traurige Stimme war dem Orchester stets einige Noten voraus. „Ich bin ihre Freundin“, sagte die Direktorin. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte. „Ich bin eine Busenfreundin der Sängerin“, sagte die Direktorin. „Ah, sie kommt aus Durango. Du warst doch schon da, nicht?“ „Ja, ich war in Durango“, sagte ich. „Und was war mit den Schreibwerkstätten?“ „Sie waren schlimmer als hier“, sagte ich als Kompliment gemeint, aber sie schien es nicht als solches aufzufassen. Sie stammt aus Durango, aber sie lebt in Ciudad Juarez[3], sagte sie. Wenn sie manchmal in ihre Geburtsstadt fährt, um ihre Mutter zu besuchen, ruft sie mich an und ich nehme mir die Zeit, die nötig ist, um ein paar Tage mit ihr in Durango zu verbringen. „Wie schön“, sagte ich, ohne meine Augen von der Straße zu lassen. „Ich wohne dann in ihrem Haus, in dem Haus ihrer Mutter“, sagte die Direktorin. „Wir schlafen beide in ihrem Zimmer und plaudern stundenlang oder hören Schallplatten. Ab und zu geht eine von uns in die Küche und macht ein Käffchen. Ich komme dort meist mit Regalada[4]-Keksen an, die ihr besser als jede andere Sorte schmecken. Und wir trinken Kaffee und essen Kekse. Wir kennen uns, seit wir fünfzehn waren.“
Am Horizont sah ich die Autobahn in den flachen Bergen verschwinden. Aus dem Osten begann die Nacht hereinzubrechen. Welche Farbe hat die Wüste in der Nacht, hatte ich mich Tage zuvor im Motel gefragt. Eine rhetorische und dumme Frage, aber irgendwie war in ihr meine Zukunft verschlüsselt, oder vielleicht nicht meine Zukunft, sondern das Reservoir meiner Fähigkeit, den Schmerz auszuhalten, den ich fühlte. Eines Nachmittags in der Schreibwerkstatt von Gómez Palacio, fragte mich ein Junge, warum ich Gedichte schrieb und wie lange ich noch gedachte das zu tun. Die Direktorin war nicht anwesend. In der Werkstatt gab es fünf Personen, fünf einzelne Schüler, vier Jungen und ein Mädchen. Zwei von ihnen trugen sehr ärmliche Kleidung. Das Mädchen war klein und dünn und geschmacklos angezogen. Der die Frage stellte hätte besser an der Universität studiert, stattdessen arbeitete er am Fließband einer Seifenfabrik, der größten (und wahrscheinlich die einzige) im ganzen Land. Ein anderer Junge war Bedienung in einem italienischen Restaurant. Die anderen zwei gingen zur Schule und das Mädchen ging weder studieren noch arbeiten.
Das bleibt dem Zufall überlassen, antwortete ich. Für eine Weile schwiegen wir beide. Ich wog die Möglichkeit ab in Gómez Palacio zu arbeiten und dort für immer zu leben. Mir schien im Innenhof hatte ich einige hübsche Malereistudentinnen gesehen. Mit etwas Glück würde ich eine von ihnen heiraten. Die hübschere sah gleichzeitig wie die konventionellere von den beiden aus. Ich stellte mir eine lange und schwierige Verlobungszeit vor. Ich stellte mir ein dunkles und kaltes Haus vor und einen Garten vollgestopft mit Pflanzen. „Und wie lange gedenkst du noch zu schreiben“, wiederholte der Junge, der Seife herstellte. Ich hätte ihm natürlich alles Mögliche sagen können, entschied mich aber für das einfachste: „Ich weiß es nicht“, sagte ich. „Und du?“ „Ich fing an zu schreiben, weil das Schreiben mich freier werden ließ, Herr Lehrer, und ich werde nie damit aufhören“, sagte er mit einem Lächeln, das kaum seinen Stolz und seine Bestimmung verbergen konnte. Das Vage dieser Antwort und die theatralische Haltung verdarben sie. Hinter dieser Antwort sah ich trotzdem seine Arbeit in der Seifenfabrik, nicht wie sie jetzt war, sondern wie sie mit fünfzehn oder zwölf Jahren für ihn gewesen war. Ich sah ihn durch die Vorstadtstraßen von Gómez Palacio laufen und unter einem Himmel dahinschlendern, der einer Steinlawine glich. Und genauso sah ich seine Freunde: mir schien es unmöglich, dass sie dieses Alter überlebten, wiewohl es trotz allem das natürlichste war.
Danach lasen wir Gedichte. Das Mädchen war die einzige von ihnen, die Talent hatte. Aber damals war ich mir keiner Sache sicher. Beim Hinausgehen erwartete mich die Direktorin zusammen mit zwei Typen, die sich als Beamte des Bundesstaates Durango[5] herausstellten. Ich weiß nicht, warum mir der Gedanke kam, es seien Polizisten, die hier waren, um mich zu verhaften. Die Jugendlichen verabschiedeten sich von mir und brachen auf. Das abgemagerte Mädchen mit einem Jungen, und die anderen drei jeder für sich. Ich sah sie einen Gang mit abbröckelnden Wänden durchqueren. Ich folgte ihnen bis zur Tür, als ob ich vergessen hätte, einem von ihnen etwas zu sagen. An beiden Enden dieser Straße in Gómez Palacio sah ich sie verschwinden.
Dann sagte die Direktorin: „Sie ist meine beste Freundin“, und danach hielt sie den Mund. Die Autobahn hörte auf eine gerade Linie zu sein. Im Rückspiegel sah ich, wie sich eine riesige Wand hinter der Stadt erhob, die wir zurück ließen. Erst spät erkannte ich, dass es die Nacht war. Die Sängerin im Kassettenrekorder begann ein anderes Lied zu trällern. Es handelte von einer schrumpfenden Ortschaft im Norden Mexikos, in der jeder glücklich war, außer ihr. Mir kam es so vor, als ob die Direktorin weinte. Ein stilles und würdevolles Weinen, aber unaufhaltsam. Sicher war ich mir meines Eindrucks jedoch nicht. Ich wendete meine Augen nicht eine Sekunde von der Fahrbahn. Dann kramte die Direktorin ein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase. „Schalt die Scheinwerfer ein“, teilte sie mir mit einer kaum hörbaren Stimme mit. Ich fuhr weiter.
„Schalt das Wagenlicht ein“, wiederholte sie, und ohne eine Antwort abzuwarten, lehnte sie sich über das Armaturenbrett und schaltete die Wagenlichter selbst an. „Fahr langsamer“, sagte sie nach einer Weile mit viel festerer Stimme, während die Sängerin die letzten Noten ihres Liedes anstimmte. „Ein sehr trauriges Lied“, sagte ich, nur um etwas zu sagen.
Das Auto blieb parkend an der Straßenseite stehen. Ich öffnete die Tür und stieg aus. Es war noch nicht ganz dunkel, aber es war auch nicht mehr Tag. Das Land rings um mich herum, die Berge in denen sich die Autobahn verlor, waren von einem so intensiven Gelbbraun, das ich noch nirgends gesehen hatte. So als ob das Licht (aber es war kein Licht, es war nur Farbe) mit etwas aufgeladen war, das ich nicht kannte, das aber genauso gut die Ewigkeit hätte sein können. Mir kam es peinlich vor, einen solchen Gedanken gehabt zu haben. Ich vertrat mir die Beine. Ein Auto fuhr dicht an mir vorbei und hupte. Um Himmels willen, gestikulierte ich. Vielleicht blieb es auch nicht bei einer Geste. Vielleicht schrie ich, fick dich und der Fahrer sah oder hörte mich. Aber das ist unwahrscheinlich, wie alles an dieser Geschichte. Darüber hinaus, wenn ich weiter an ihn denke, ist das einzige, was ich sehe, mein eingefrorenes Bild in seinem Rückspiegel. Damals trug ich mein Haar noch lang, ich war dünn, bekleidet mit einer Jeansjacke und einer übertrieben große Brille, eine scheußliche Brille.
Das Auto bremste einige Meter weiter vorn und kam zum Stillstand. Niemand stieg aus. Weder setzte es zurück, noch hatte ich die Hupe erneut gehört, aber die pure Präsenz des Fahrzeugführers pumpte den Raum dermaßen auf, als würden wir ihn nun gemeinsam teilen. Vorsichtig bewegte ich mich auf die Fahrzeugseite der Direktorin. Sie ließ das Seitenfenster herunter und fragte mich was passiert sei. Mehr denn je hatte sie Glupschaugen. „Das weiß ich nicht“, sagte ich zu ihr. „Es ist ein Mann“, sagte sie und rutschte auf den Fahrersitz hinüber. Ich setzte mich auf den Platz, den sie freigab. Er war heiß und feucht, als ob die Direktorin ein Fieber ergriffen hätte. Durch das Seitenfenster konnte ich die Silhouette eines Mannes sehen, der wie wir in Richtung der Autobahnlinie blickte, die sich in die Berge zu schlängeln begann. „Das ist mein Mann“, sagte die Direktorin, ohne dabei aufzuhören das Auto eingehend zu betrachten und als ob sie mit sich selbst sprechen würde. Dann legte sie die andere Seite der Musikkassette ein und erhöhte die Lautstärke. “Manchmal ruft mich meine Freundin an“, sagte sie, „wenn sie in Städten unterwegs ist, die sie nicht kennt. Einmal rief sie mich aus Madero Stadt an. Sie hatte dort die ganze Nacht in einem Gebäude der Ölarbeiter-Gewerkschaft gesungen und sie rief um vier Uhr morgens an. Ein anderes Mal rief sie aus Reynosa an.“ „Schön“, sagte ich. „Nein, weder schön noch schlecht“, sagte die Direktorin. „Sie ruft einfach an; manchmal braucht sie das. Wenn mein Mann antwortet, legt sie den Hörer auf.“
Für eine Weile sagten wir beide nichts. Ich stellte mir den Mann der Direktorin mit dem Hörer in der Hand vor. Er greift nach dem Hörer und sagt: „Hallo, wer ist da?“ Dann hört er wie am anderen Ende aufgelegt wird und er legt ebenfalls auf, quasi wie aus einem Reflex heraus. Ich fragte die Direktorin, ob ich aussteigen und dem Fahrer des anderen Wagens etwas sagen sollte. „Das ist nicht nötig“, sagte sie. Mir schien das eine vernünftige Antwort, aber in Wirklichkeit war sie verrückt. Ich fragte sie, was sie glaubte, das ihr Mann tun würde, wenn er es wirklich sein sollte. „Er wird dort stehen bleiben bis wir wegfahren“, sagte die Direktorin. „Dann wäre es das beste, wenn wir gleich fahren würden“, sagte ich. Die Direktorin schien in ihren Gedanken versunken, aber in Wirklichkeit, begriff ich sehr viel später, war das einzige was sie tat, die Augen zu schließen und das von ihrer Freundin aus Durango gesungene Lied buchstäblich bis zum letzten Tropfen auszukosten. Dann ließ sie den Motor an und kam langsam anfahrend an dem Auto vorbei, das einige Meter voraus hielt. Ich sah aus dem Fenster. In diesem Moment drehte mir der Fahrer seinen Rücken zu und ich konnte das Gesicht nicht sehen.
„Bist du sicher, dass es dein Mann war?“, fragte ich sie, als der Wagen sich wieder in Richtung der Hügel verlor. „Nein“, sagte die Direktorin und lachte los. „Ich glaube er war es nicht.“ Das brachte mich auch zum Lachen. „Der Wagen schien von ihm zu sein“, sagte sie, während sie sich vor Lachen schüttelte, „aber er selbst war es nicht.“ „Also schien es dir nur so?“, sagte ich. „Es sei denn er hätte das Nummernschild gewechselt“, sagte die Direktorin. In diesem Moment begriff ich, dass alles nur ein Scherz gewesen war und ich schloss die Augen. Dann fuhren wir aus den Hügeln heraus und in die Wüste hinein. Über die Ebene fegten die Scheinwerfer der Autos hinweg, die sich nach Norden oder in Richtung auf Gómez Palacio bewegten. Die Nacht war schon hereingebrochen.
„Pass auf“, sagte die Direktorin, „wir kommen jetzt an einen ganz besonderen Platz.“ Das waren die Worte, die sie benutzte. Ganz besonders. „Ich wollte, dass du dies siehst“, sagte sie, „für mich ist es das, was mir am besten an meinem Land gefällt.“ Der Wagen fuhr von der Autobahn ab und hielt an einem günstig gelegenen Rastplatz. Obwohl, in Wirklichkeit war es nichts als bloß ein Fleckchen Erde, gerade groß genug für ein paar parkende Lastwagen. In der Ferne funkelten die Lichter von etwas, das ein Dorf oder nur ein Restaurant hätte sein können. Wir stiegen nicht aus. Die Direktorin zeigte auf einen vagen Punkt. Ein Streifen Autobahn, der ungefähr fünf Kilometer von dem entfernt war, wo wir uns befanden, vielleicht mehr, vielleicht weniger. Sie putzte sogar die Windschutzscheibe, damit ich besser sah. Ich schaute, sah die Scheinwerfer der Automobile und wegen der Scheinwerferdrehungen hätte dort vielleicht eine Kurve sein können. Und dann sah ich die Wüste und ich sah ein paar grüne Umrisse. „Hast du es gesehen“, fragte die Direktorin. „Ja, Scheinwerfer“, erwiderte ich. Die Direktorin sah mich an: mit ihren glänzenden Glupschaugen, die zweifelsohne glänzten wie die Augen der Kleintiere, aus dem unwirtlichen Umland von Gómez Palacio im Distrikt Durango. Dann blickte ich wieder dorthin, wohin sie gezeigt hatte. Zuerst sah ich nichts, nur Dunkelheit, die wie jenes Dorf oder das unbekannte Restaurant schimmerte. Danach fuhren ein paar Autos vorbei und ihre Lichtstrahlen zerteilten den Raum mit einer außergewöhnlichen Langsamkeit.
Eine außergewöhnliche Langsamkeit, die uns jedoch nichts mehr anhaben konnte.
Und dann sah ich, wie das Licht, Sekunden nachdem das Auto oder der Lastwagen diese Stelle passiert hatte, sich selbst einholte und dort hängen blieb, ein grünes Licht, das zu atmen schien, das für den Bruchteil einer Sekunde lebte und sich in der Mitte der Wüste spiegelte, von allen Fesseln befreit war, ein Licht, das dem Meer ähnelte, das sich wie das Meer bewegte, als ob es die ganze Zerbrechlichkeit der Erde festhielte, ein grünes, wellenförmiges, wunderbares und einzigartiges Licht, das wohl aus jener Kurve kam, ein Zeichen, das Dach einer verlassenen Hütte, riesige auf der Erde ausgebreitete Kunststoffteile, schuldhaft hervorgebracht, aber in dieser beträchtlichen Entfernung vor uns, erschien es uns wie ein Traum oder ein Wunder, was am Ende der Geschichte auf das gleiche hinausläuft.
Dann stellte die Direktorin den Motor an, drehte, und wir fuhren in das Motel zurück. Am folgenden Tag plante ich, nach Mexiko Stadt abzureisen. Als wir ankamen stieg die Direktorin aus dem Wagen und begleitete mich ein Stück. Bevor wir bei meinem Zimmer waren, gab sie mir die Hand und verabschiedete sich. „Ich weiß, dass du mir meine Ausschweifungen verzeihen wirst“, sagte sie, „aber letzten Endes lesen wir doch beide Gedichte. Ich war ihr dankbar, das sie nicht gesagt hatte, wir wären beide Dichter. Als ich in meinem Zimmer ankam, schaltete ich das Licht an, zog meine Jacke aus und trank Wasser direkt aus dem Hahn. Dann begab ich mich ans Fenster. Auf dem Parkplatz des Motels stand immer noch ihr Auto. Ich öffnete die Tür und ein Windhauch der Wüste schlug mir ins Gesicht. Das Auto war leer. Ein bisschen weiter weg sah ich die Direktorin am Straßenrand stehen, als betrachtete sie einen Fluss oder eine außerirdische Landschaft. Mit ihren leicht angehobenen Armen wirkte sie, als ob sie mit dem Wind sprechen würde oder etwas aufsagte oder als ob sie wieder ein Mädchen wäre, das mit ihren Figuren spielte. Ich schlief nicht gut. Bei Tagesanbruch kam sie selbst um mich abzuholen. Sie begleitete mich bis zur Busstation und sagte mir, wenn ich mich schließlich doch dafür entscheiden würde, die Arbeit anzunehmen, wäre ich jederzeit sehr willkommen in der Schreibwerkstatt. Ich sagte ihr, dass ich darüber nachdenken müsste. Sie sagte, dass es gut sei, über die Dinge nachzudenken. Dann sagte sie: „Eine Umarmung.“ Ich beugte mich herunter und umarmte sie. Der mir zugewiesene Sitzplatz befand sich auf der anderen Seite, sodass ich nicht sehen konnte, wie sie wegfuhr. Das einzige, woran ich mich zuletzt vage erinnere, ist ihre dort stehende Gestalt, wie sie den Bus ansah oder vielleicht auf ihre Armbanduhr schaute. Dann war ich gezwungen, mich hinzusetzen, damit die anderen Reisenden den Mittelgang passieren und es sich auf ihren seitlichen Plätzen bequem machen konnten. Als ich wieder hinaussah, war sie nicht mehr da.
Hast du das selber übersetzt?
Oh entschuldige… habe gerade gesehen, dass du es selbst übersetzt hast! :)
Hallo aallegoric,
macht doch nichts, bin gerade noch in Portugal, deshalb nur die kurze Antwort. Roberto Bolaño ist jede Uebersetzung wert, auch wenn sie nur unprofessionel ist.
Herzlichen Gruss
Der Buecherblogger
Ich liebe Bolaño, obwohl ich erst ein paar Short Stories von ihm kenne. Irgendwie schaffe ich es zeitlich nicht, mich ihm wirklich zu widmen. Da mein Spanisch recht bescheiden ist, lese ich ihn auf englisch… Auf deutsch wirkt der Text iwie komisch auf mich. Aber ich bin sicher, dass es nicht an der Übersetzung liegt, sondern eher daran, dass ich mit deutsch nicht mehr viel anfangen kann… ;) Aber Bolaño ist es definitiv wert….ja :)
Ich empfehle als weiteren Einstieg, falls noch nicht bekannt, den Erzählband „Telefongespräche“ und natürlich das mehr oder weniger vollendet unvollendete Hauptwerk „2666“, ein Muss! Zum Band Telefongespräche gibt es übrigens eine Essaysammlung der Bolaño-Lesergemeinschaft zwei666.de, in der ich damals drei Beiträge geschrieben habe und die ich als PDF-Datei auch komplett separat noch einmal veröffentlicht habe. Trotz fast keiner Spanischkenntnisse auch bei mir, gibt es das spanische Original bei Scribd: Llamadas telefónicas.
Herzlichen Gruß
Der Buecherblogger
Sorry, ich bin’s noch mal … etwas neben den Aktualitäten.
Ich hatte mir „Gomez Palacio“ ausgedruckt und habe sie jetzt drei mal gelesen. Ich meine, zu verstehen wie und um was herum sie gebaut ist und sie scheint mir dabei nicht sehr herausfordernd – und eben doch auf eine schwer bestimmbar zu machende Weise gelungen. Ich wüsste gerne mehr.
Ich habe mich gefragt, wie die Geschichte funktionieren würde, nähme man die Exotik der Schauplätze weg. (Ich war vor x Jahren mal in Mexiko in den Sierras und eine bestimmte Qualität der Eindrücke ist nie verflogen und von daher auch schwer abzuwehren.) Aber natürlich ist die Wüste (ist das Land) hier selber ein Mitspieler. Und ansonsten ist ja wohl, neben den unausgeführten Gründen der Bedrängnisse des Erzählers, die Direktorin ein Angelpunkt. Und auch sie also in ihren Absichten und Interessen unerklärt. Doch stelle ich mir da auch nicht mal besonders dringlichen Fragen (oder danach wie der Sog der Neugier dahin angelegt ist).
Ich sage das alles nur kurz und vereinfacht um zu zeigen, wie ich die Geschichte auffasse. Und vielleicht – es reichte ebenfalls kurz – mal von Ihnen zu hören, was Ihr Punkt ist bzw. was Sie an der Geschichte seinerzeit so interessierte, dass Sie sie übersetzt haben. (Habe nur mal oberflächlich mit der englischen Version aus dem New Yorker verglichen, aber Ihre Übersetzung scheint mir gelungen.)
(Und natürlich nur, wenn Sie Zeit haben – komme eh wieder vorbei. Hatte mir auch das Dossier zu „Telefongespräche“ runtergeladen – das war mein erster Bolano – und bin wieder „angefixt“. Auch deshalb der Wissensdrang.)
Möge die Ausgießung des Pfingstgeistes sich nicht auch bei Ihnen auf die Form des Regens beschränken…
R. R.
Lieber Rainer Rabowski,
ich antworte Ihnen erst morgen, aber dann ausführlich. Ich muss die Erzählung selbst noch einmal lesen und mich in diese frühe mexikanische Periode Bolaños Mitte der siebziger Jahre selbst wieder einfühlen. Hinter den manchmal banalen Vorkommnissen treten für mich ständig größere Zusammenhänge hervor, auch das politische Klima des Landes damals streifend. Dafür fehlt mir allerdings etwas das fundierte Geschichtswissen. Es ist bei weitem jedoch nicht nur die Geschichte eines angehenden Poeten. Der vordergründige Realismus hat seine „viszerale“ oder „infrareale“ Komponente in fast jedem Absatz.
Ich lasse also erst morgen regnen, bis dahin einen herzlichen Pfingstgruß
Der Buecherblogger
Wie merkwürdig, ich war mir selbst nicht mehr sicher und musste suchen, ob ich neben der Übersetzung auch noch eine Interpretation damals nachgeliefert hatte. Aber es gibt sie und ich füge sie auch noch in die Liste der Besprechungen unten ein. Der Grund, warum ich überhaupt die Übersetzung dieser Erzählung und des Gedichtes gemacht habe, liegt natürlich darin, dass es einfach noch keine deutsche Übersetzung seiner Gedichte und noch einiger anderer Erzählungen gibt. Versuchen wollte ich mich einmal an „Prefiguration of Lalo Cura“, aber die Vermessenheit und die damit verbundene Anstrengung ist wohl einfach zu groß gewesen, weil ich kein Spanisch kann. Der Impuls dahinter aber ist die Frage nach der Bedeutung, auf die man natürlich immer nur eine subjektive Antwort findet. Bei „Gomez Palacio“ war es schlicht zunächst die Frage nach der Bedeutung des Titels, denn ich war mir nicht einmal sicher, ob das der Eigenname einer Person, einer Stadt oder von sonst etwas wäre. Was sollte uns anderes antreiben als die Neugierde.
Für mich fängt die Erzählung die bedrückende Atmosphäre Mexikos und speziell dieser Stadt ein. Es geht um die Verortung der prekären Existenz eines angehenden Schriftstellers. Die Stimmung ist sowohl die innere des namenlosen Erzählers, als auch die äußere einer unfreien Gesellschaft. Die Welt wird als kontingent, aber dennoch voller Zeichen wahrgenommen. Alles weist über sich hinaus, hat aber den letzten „Sinn“ oder seine „Notwendigkeit“ noch nicht erkannt oder gefunden. Für Bolaño selbst wohl schon damals das Schreiben selbst. Der Versuch, auf die Verstörungen der Welt, das wahrgenommene Nichts, mit der eigenen Kunst zu reagieren. Beim erneuten Lesen meiner Interpretation lächle ich ein wenig über meine Gleichsetzung des Erzählers mit Bolaño selbst. Es könnte natürlich auch ein „Belano“ oder anderer, nach Mexiko emigrierter Chilene oder sonst ein junger Lateinamerikaner sein.
Beim oberflächlichen Lesen wirkt die Erzählung spröde, beinahe nichtssagend. Es passiert nichts Berauschendes, keine Liebesgeschichte, kein Mord, aber diese bewusste Leere kennzeichnet eben das Lebensgefühl des Erzählers. Erinnerungsfragmente an eine Zeit, wo man sich mit dem Abhalten von so etwas wie Schreibkursen an Volkshochschulen auch finanziell über Wasser hielt. Alles trägt den Charakter und die Stimmung, nur auf der Durchreise zu sein. Vielleicht die philosophischste Haltung zum Leben selbst. Doch es gilt auch für diese Erzählung, dass nichts ist, was es scheint (nada es lo que parece). Die ständigen Farben, die Aufschrift des Lastwagens, das grüne Leuchten, räumlich und bedeutungsmäßig die zentrale Textstelle, auf die hin die ganze Erzählung gebaut ist, die Fahrt durch die Wüste, einmal mehr Wüste als Metapher für unsere inneren Kläglichkeiten. Das mag man alles als mystisch empfinden, aber dahinter steckt auch eine ganz moderne Form des Realismus und lauert die durchaus politische Doppeldeutigkeit. Lateinamerika ist ein gewalttätiger Kontinent, ein von Diktaturen geplagter in den siebziger Jahren. Bolaño erklärt das nicht explizit, er umschreibt die Leerstelle eines banalen, bedrohten Lebens und der Leser muss diese ausfüllen.
Der Hanser Verlag stürzt sich ständig auf Nachlass-Romane, anstatt sich der unveröffentlichten Gedichte und Erzählungen anzunehmen. Irgendwann gibt es vielleicht doch einmal eine Werkausgabe, und sei es nur für die Bibliotheken. Für einen Kommentar ist mir das schon ziemlich lang geraten, deshalb grüße ich Sie noch einmal herzlich und werde ein mir selbst gegebenes Versprechen einlösen, die beiden Bände „Erste Lieben“ und „Haltestellen“ von Ihnen zu bestellen. Die „Sonntage“ haben mich neugierig gemacht und Sie sehen ja, was aus Neugierde alles werden kann.
Der Buecherblogger
Ich danke Ihnen – und überhaupt, der Geschichte derart ins außer-spanische Leben geholfen zu haben. Mit unseren Lesarten sind wir wohl ziemlich d’accord. Und die Faszination der Geschichte hält an.
Ich habe mir vorgenommen, demnächst endlich mal „2666“ anzugehen. Es gibt eine Besprechung von Gregor Keuschnig, nicht durchgehend positiv, meine ich mich zu erinnern, aber auf das Buch war ich schon neugierig geworden. (Musste mich dann aber, wg. nötigen Recherchen, erst mal wieder anderswohin wenden – das passiert mir leider oft.)
Zu GP nur noch ganz kurz mein erster Einfall (aber Sie haben ihn selber schon benannt): Der rayon verte. Und dieser – ein ja als selten geltendes Lichtschauspiel – als zugleich Erlösungszeichen wie auch als Verstärkung noch einmal der Wirkungen des Distopischen und seiner Effekte auf den Erzähler und seine „Entwurzelung“ ja in einem tatsächlichen Exil.
Sie können das ja nicht wissen, aber in dem Text, an dem ich gerade sitze, kommt – gleichnishaft für etwas Spezifisches an (ungleich minderer) Entfremdung des Erzählers – einmal das „politische“ Südamerika vor. Ich nenne da weiter keine Details (oder Ländernamen oder genaue Daten), erwähne nur, dass also der Erzähler, eigentlich mit einer „europäischen“ Sehnsucht, stattdessen öfter in diese schwierigen Länder unter dubiosen Regimes gefahren war. Und ihm geht erst viele Jahre später die Zweifelhaftigkeit seines Interesses auf. Und er miss sich eben auch fragen, wieso ihm das erst so spät bewusst wird. Gomez Palacio bildete mir da gerade den idealen Hintergrund dafür.
Wunderbare Literatur! (Wellershoff sagt in einem seiner Aufsätze, dass, wenn man ein starkes Thema hat, eigentlich alles sofort Material werden kann. Das stimmt.)
Noch einmal Vielen Dank!
(Und natürlich auch für Ihr Interessen an meinen Büchern. Ich sehe mich selber ja eigentlich gar nicht als Schriftsteller. Als selbst dahin entschiedene Randfigur reibe ich mir noch manchmal die Augen!)
R. R.