Die Fahrt zur Waldkönigin

Aufwärmphase

Im Grunde ist alles einfach, das Leben kennt nur zwei Zustände, das Werden und das Vergehen. In Wirklichkeit könnte es aber auch viel komplizierter sein, denn uns bleibt immer nur die dünne Haut dazwischen, eine osmotische Membran, das nicht aufzuhaltende Pendel, die Gegenwart. Es ist sogar so kompliziert, das beides immer auch das andere enthält, etwa wie das Männliche die Weiblichkeit und umgekehrt.

1. Etappe

Vor nicht allzu langer Zeit stieg Frank Vierfurth, wie beinahe jeden Tag, auf sein zwanzig Jahre altes Herrenrad. Ende vierzig, nicht mehr in seinen besten Jahren, und nicht sonderlich diszipliniert, wollte er sich für den Erhalt seiner Gesundheit  regelmäßig sportlich ertüchtigen. Er saß beruflich als Exportkaufmann viel zu oft auf seinem Bürostuhl und hatte sich das Radfahren zum Ausgleichshobby gemacht. Wir wollen ihn auf einer seiner Radrunden begleiten. Sein Weg war oft der gleiche, ja, man hätte ihm vorwerfen können, sein ganzes Leben verliefe mit einer Art bürgerlichen Regelmäßigkeit. Die kreisförmige Strecke führte ihn zunächst immer an der tausend Jahre alten Kirche vorbei, die den Mittelpunkt des Dorfes bildete. Er überquerte anschließend umsichtig eine Hauptstraße, legte weitere dreihundert Meter zurück und nach einer Rechtskurve lag der kleine Dorffriedhof vor ihm. Dahinter öffneten sich weite Felder mit kleinen Wäldern und Feldwegen, die entweder asphaltiert oder eine gröbere Oberfläche aufwiesen. Manchmal hielt er hier kurz an, zog sich eine Mütze gegen den kalten Fahrtwind auf freiem Feld über seinen Kopf  und sah dabei flüchtig, wie zwei oder drei Friedhofsbesucher, andere Dorfbewohner vermutlich, Gießkannen hin und her trugen und mit der Grabpflege beschäftigt waren. Wenn er dann erst einmal einsam auf der langen Geraden sein gleichmäßiges Tempo erreicht hatte, lief alles wie von selbst. Seine Gedanken lösten sich, als würden sie die Enge des Büros nie gekannt haben. Nach ungefähr fünf Kilometern hatte er sich angewöhnt, eine kleine Pause zu machen. Dem Alter, sich sportlich beweisen zu müssen, war er längst entwachsen. Eine leicht spürbare Erschöpfung ging dann mit einer Art innerem Selbstgespräch daher und diesmal musste er an einen alten Mitschüler noch aus der Quinta des Gymnasiums denken, der damals unverhofft an einer Gehirnhautentzündung oder Ähnlichem verstorben war. Viele waren zur Beerdigung gegangen, er nicht, aber das würde schon seinen Grund gehabt haben, denn nicht einmal der Name fiel ihm mehr ein. Der Vorfall war ihm zum Symbol für die Frage geworden, warum ein junger Mensch starb, und zum Beispiel er selbst immer noch lebte. Jeder Versuch einer Antwort war ihm bisher als völlig unzureichende, ablenkende Tröstung erschienen. Am Ausgang eines kleinen Wäldchens verlangsamte er schließlich seine Fahrt und stieg ab.

2. Etappe

Die Maus hatte ihn schon von weitem gehört, sehen konnte sie ihn aufgrund ihrer Größe nicht. Sie bewohnte  übereinander getürmte, völlig morsche Baumstämme, die bröckelig vermodert wie ein zusammengefallenes Skelett ihr Unterschlupf boten. Der Schatten des Waldes öffnete sich an dieser Stelle wie ein helles Tor. Er stellte das Rad beiseite und aß seine in der Jackentasche mitgebrachte Süßigkeit mit aufsteigendem schlechten Gewissen. Manchmal erleichterte er sich, wenn es nötig war hinter einem der Bäume. Als er wieder aufsteigen wollte, warf er einen Blick zurück, als ob er etwas vergessen haben könnte. Da sah er die kleine, dunkelgraue Waldschönheit, die sich zunächst wie in Schockstarre tot zu stellen schien. Plötzlich aber ergriff den kleinen Körper soviel Leben, dass er ihr mit den Augen kaum noch folgen konnte. Sie huschte wie ein Rennwagen über den Waldboden, blieb wieder stehen und schnellte in rasendem Tempo wieder auf ihrer Bahn zurück. Es wird kalt werden und dann kriecht sie in ihr Loch unter die Erde, dachte er. Düster saß sie mit ihren großen Knopfaugen in der Tiefe. Diese neugierigen Augen schienen überhaupt das Größte an ihr zu sein. Er stellte sich die Frage, ob sie den kommenden Winter überleben würde. Einen Moment sah er sich selbst als diese graue Maus, die über die mit Laub bedeckte schwarze Erde huschte, verwarf dann aber den Gedanken. So klein war er nun auch wieder nicht. Schließlich hatte sie auch kein Fahrrad und vor allem nicht die überragende Intelligenz, ein solches zu bauen oder zu fahren. Gut, bauen konnte er auch keins, nur fahren. Er ertappte sich jetzt häufiger bei diesen selbstmitleidigen Betrachtungen, die aus ihm heraustrieften. Vielleicht war etwas von ihm dennoch auch in dieser Maus. Sie beide lebten, weil sie in Bewegung blieben. Wie winzig sie war, aber eine echte Schönheit. Er wusste nichts über Waldmäuse. Ein mächtiges Zuhause hatte sie da unter dem umgestürzten Stammresten des großen, hohlen Baumes gefunden. Für sie musste es ein riesiges düsteres Schloss oder eine schützende Burg sein, die sich da im Fallen ein letztes Mal über ihr aufgebäumt hatte. Für den toten Baum ging es im Gegenteil wieder in die Erde zurück, er verging und schien ihr lautlos und vergeblich zuzurufen: “Memento Mori, Maus!” Ob Botschaften dieser Art jemals ankamen? Er schüttelte den Gedanken ab, wie er es gerade eben noch mit seinem Glied getan hatte und stieg gedankenverloren wieder auf sein Rad. Windig war es, immerhin wenigstens trocken und die Luft zwar kalt, aber auszuhalten. So ging es noch einige Feldwege weiter, bis die körperliche Beanspruchung ihn sich allmählich lebendiger fühlen ließ.

3. Etappe

Als er den kurzen Abschnitt Landstraße ohne Radweg fahren musste, um wieder zurück zum Dorf zu gelangen, war das Geräusch der herannahenden Fahrzeuge hinterrücks wie das anschwellende Fauchen von Tigern, bei denen man hoffte, von ihren vorbeirasenden Krallen verschont zu bleiben. Längst herrschte Krieg auf den Straßen und wo es keine eindeutige Trennung der Fortbewegungsarten gab, existierte auch kein gegenseitiger Frieden. Jeder hielt den anderen Geschwindigkeitsteilnehmer für einem unliebsamen Konkurrenten. Den Status und die Ideale, die man vor sich her trug, verteidigte jede Lobby unbeugsam. Jeder war ein einsamer Passagier in seinem Privatbus, dessen Fahrer sich als fratzenhaftes Reptil im Rückspiegel entpuppte. Vor ihm tauchte eine Radfahrerin auf, die ein wenig langsamer, aber auch vorsichtig ganz rechts an den Straßenrand gedrückt fuhr. An der nächsten Kreuzung hatte er sie eingeholt und sie fragte ihn nach einer Möglichkeit, die Hauptstraße und das Dorf zu umgehen, um möglichst ruhig in das nächstgelegene zu gelangen. Er war so freundlich, es ihr zu sagen und spürte eine gewisse Solidarität, als sie sich mit “Gute Fahrt” verabschiedete. Endlich konnte er wieder auf die langen, gut asphaltierten Rübenschnellwege der Bauern abbiegen und nur den Wind im Rücken verlieh ihm das schnelle Dahinfliegen ein Gefühl der Freiheit. Er wurde übermütig und radelte eine Zeitlang freihändig, um seine Wirbelsäule zu entspannen. Unvermittelt tauchte ein blauer Passat in der Ferne auf, der sich als Polizeifahrzeug herausstellte und ihm ein mulmiges Gefühl machte, als es mit Lichthupe auf ihn zu fuhr. Ihm blieb keine Wahl, als neben dem Auto unfreiwillig anzuhalten. “Haben Sie einen streunenden Schäferhund gesehen?”, fragte ihn der männliche Beamte freundlich und seine blonde Kollegin auf dem Beifahrersitz lächelte dazu. Er verneinte und grüßte nur wortkarg. Ein wenig irritiert durch diese unerwartete Unterbrechung, zog er sich mühsam auf seinen Sattel zurück und versuchte wieder das alte Tempo zu erreichen.

 4. Etappe

Nach einer kurzen Steigung und einer scharfen Rechtskurve lag eine mindestens zwei Kilometer lange, schnurgerade Schotterstrecke mit Rollsplitt vor ihm, die man wegen der Rutschgefahr am besten nur in den ausgefahrenen Spurrinnen benutzte. Im Winter pfiff hier noch dazu der Gegenwind mit boshafter Erbarmungslosigkeit. Wie eine Art Belohnung wartete dann aber seitlich an einer Waldecke gelegen eine geschützte Bank auf Wanderer, Jogger, Radfahrer und andere Wettertrotzende. Kurz vorher wurde der Feldweg jedoch von der mäßig befahrenen Landstraße dicht am Ortsausgang gekreuzt. Wenn er hundert Meter vor dieser Stelle angekommen war, hatte er es sich, wie in einer Art Spiel, zur Gewohnheit gemacht, kurz nach links und rechts auf vorfahrtsberechtigte Autofahrer Ausschau zu halten. Wenn das nicht der Fall war, bestand kein Grund die Geschwindigkeit zu verringern und wie zum Trotz schnellte man über diese unliebsame Kreuzung hinweg. Seine Gedanken beschäftigten sich noch mit dem Bild der kleinen Königin des Waldes, die nicht aus seinem Kopf gehen wollte, als er von einer ungeahnten Schmerzwelle überrollt wurde, die sein Bewusstsein sofort ausschaltete. Im Dorf hatte man ein grässlich langes Quietschen von Reifen gehört, dem unmittelbar, was die Länge betraf diametral entgegengesetzt, ein kurzes, dumpfes Aufprallgeräusch folgte, das wiederum wie zur Erlösung in eine schockartige Stille überging. Aus der bildete sich in einer Art Kollektivbewusstsein der Standardsatz: “Da muss was passiert sein.” In dem Artikel, der in der völlig überflüssigen Sonntagszeitung, deren Werbebeilage dreimal so dick ist wie sie selbst, stand lapidar: Ein Kleinwagen kollidierte am späten Nachmittag in der Nähe der Ortschaft H. mit einem Radfahrer. Sie fragen sich jetzt vermutlich, ob Frank im Krankenhaus starb. Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, denn der kurze Zeitungsartikel gab nicht mehr her. Aber so wie sein alter Klassenkamerad seit über vierzig Jahren unter der Erde ruhte, werden wir eben alle irgendwann über einem Friedhof leicht ins Licht fliegen oder dunkler Waldboden werden. Frank sehe ich dort mit seinem Fahrrad fliegen, er schwebt geradezu, und auf seinem Lenkrad läuft eine winzige Maus irrsinnig schnell hin und her.  Mich selbst jedoch wundert, dass auch ich nun  anfange zu hoffen, der kleinen Waldkönigin ginge es gut. Ich habe ihr viele neue Sommer gewünscht, obwohl ich weiß, dass auch ihr letzter Winter irgendwann kommen wird. Aber damit greife ich einem Ereignis vor, das in der Zukunft auch auf mich wartet.

Abkühlungsphase

Im Grunde ist alles einfach, der Kreis, und damit das Rad, ist die Form, zu der am Ende die Dinge zusammenfließen. In Wirklichkeit könnte es aber auch viel komplizierter sein, ein undurchschaubares Netz, und wir spüren immer nur, wie sich das Chaos des Nichts ausbreitet auf der Rückseite des Spiegels, der uns bald nicht mehr kennen wird.