Janet Frame: Dem neuen Sommer entgegen

“Gib Staunen genug, dass die Welt aufmerkt,
wenn Dichter leben,
und trauert, wenn Dichter sterben.

S.62

Janet_Frame_Dem_neuen_Sommer_entgegenDer dtv-Verlag hat bei seinen preiswerten Ausgaben in diesem Herbst auch einen Schwerpunkt auf Romane großer Schriftstellerinnen in seinen Neuerscheinungen gelegt. Neben den bekanntesten von Jane Austen als Geschenkbücher liegt nun auch der Roman “Dem neuen Sommer entgegen von Janet Frame passend zum Gastland Neuseeland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse als Taschenbuch vor. Katherine Mansfield (1888-1923) und Janet Frame (1924-2004) waren die beiden noch immer nicht genug für ihr Prosawerk bekannten Schriftstellerinnen Neuseelands. Ihre aufregenden Biographien haben eher von ihren eigentlichen Werken abgelenkt.
Die neuseeländische Schriftstellerin Grace Cleave hat es im Februar 1963 in das winterliche London verschlagen. Wie der Name schon sagt, ist sie nicht nur mit künstlerischer Kreativität begnadet und sieht ihre Mitmenschen mit einem warmherzigen, gnädigen Blick, sie ist auch in ihrem inneren und äußeren Erleben tief gespalten. Ihre antipodische Heimat, die sie mit Janet Frame gemeinsam hat, ist zu einer widersprüchlichen Erinnerung geworden. Das Land der Sehnsucht und Kindheit mit seiner überschwänglichen Naturerfahrung und der großen Familie hielt auch Verletzungen und Zurückweisungen für ihre vermeintlich kranke Psyche bereit. Nun fühlt sie sich in der nasskalten Großstadt London wie eine autistische Einzelgängerin in einer fremden Welt. Unbeschützt dringen alle neuen Eindrücke durch die dünne, poröse Haut ihrer schreibenden Existenz und außergewöhnlichen Vorstellungskraft. Dieser Wahrnehmungsstrudel trennt die Innen- und Außenwelt, lässt sie schwanken zwischen der Ich-Erzählerin ihrer Gefühle und Träume und der sich selbst gleichzeitig mit einer distanzierten Außenperspektive als “Sie” Beschreibenden, die aus der Welt gefallen ist wie ein Vogel aus seinem Nest. So vergleicht sie sich mit einem Zugvogel und scheint auch für sich selbst in diesem erst posthum 2007 veröffentlichten Roman eine Vogelperspektive eingenommen zu haben.

Autobiographisches Schreiben verleitet ständig dazu, als Leser immer nur das Alter Ego der Autorin aus dem Roman herauszulesen und Vergleiche anzustellen, die sicher leicht fallen. Ein Roman aber ist bewusst eingesetzte Fiktion, mit der ein Autor die Distanz zu den Dingen und Menschen des täglichen Lebens und zu sich selbst nicht nur minutiös beschreibt, sondern in der sprachlichen Neuerfindung überwindet. Deshalb stehe ich der Gleichsetzung von Grace Cleave als Protagonistin mit Janet Frame als Autorin trotz offensichtlicher Parallelen sehr skeptisch gegenüber. Der Roman handelt also von der Figur einer begnadeten Schriftstellerin mit einem Riss in der Seele, den man auch als Kennzeichen der Idiosynkrasie von Schriftstellern allgemein bezeichnen könnte. Es ist die Wahrnehmung kleinster Stimmungsschwankungen, winziger Reaktionen anderer, die nun wiederum Janet Frame versteht unnachahmlich auszudrücken. Ein Zitat, in dem sie nach ihrer Ankunft bei der befreundeten Familie eines neuseeländischen Schriftstellers und Journalisten in Wenchley, wo sie ein Wochenende verbringt, um ihre Schreibblockade beim aktuellen Roman in London zu überwinden, eben diesen Gastgeber Philip beschreibt, soll dies verdeutlichen:

“Philips Augen waren haselnussbraun – nein, weder hasel- noch gelb-, noch bernsteinfarben; herbstlich mit Tupfen in der Farbe der Adern goldener Blätter; nein, auch nicht herbstlich – da war etwas – ja, seine Augen hatten etwas von dem bräunlichen Fleisch gegarter Forellen, sie hatten den gleichen erdigen goldenen Geschmack, und das Fleisch ließ sich genauso leicht von den Gräten lösen; auch die unschuldige Bosheit eines kleinen Jungen auf dem Schulhof war darin zu erkennen; und eine verschmitzte Naschgier; und reine wahrhaftige winterliche Sorge um Klarheit, ein herbstliches Verschwinden allen Laubs, aller blühenden Verdunkelungsmassen aus – sagen wir – einem Gedankenhain, einer Landschaft menschlichen Verhaltens.”

Das ist keine normale Beschreibung eines Mannes, dazu braucht man vielleicht so etwas wie den siebten Sinn. Den hinter ständiger Bejahung zu verstecken, ist ihr Hauptanliegen während des Besuchs. Denn bei aller Freundlichkeit setzt ihr die Normalität des vorgeführten Familienlebens eines Paares mit seinen zwei Kindern ziemlich zu. Sie meint sich verstellen zu müssen; ihre Gedanken bilden eine innere Welt, die sie niemandem zumuten möchte. Für den Leser aber sind gerade die Stellen einer so übersensiblen Wahrnehmung und Schüchternheit die beeindruckendsten.

Janet Frame gelingt es, die Grace Cleave beängstigende Normalität der anderen mit warmherzigem Humor und menschlicher Nähe zu schildern. Das Gefühl der eigenen Fremdheit in der Welt wird ihr nicht zum Anlass, sich zu beklagen, eher zu einer stillen Anklage gegen eine allumfassende Konformität, in der das Abweichende, vielleicht auch Kranke, keinen Platz haben darf. Die Fremdheit in der Welt normaler Menschen empfand sie schon in London vor ihrer kleinen Reise bei einem Interview mit einem jungen Paar, das sich in seiner jugendlichen Allgewissheit von ihr als Schriftstellerin ein völlig anderes Bild gemacht hatte. Sie hat das ständige Gefühl, einem äußeren Druck, der sie in eine gleichmachende Bürgerlichkeit zwängen will, nicht genügen zu können. Die Mitreisenden auf der Fahrt zu ihrem Wochenendbesuch hatten den gleichen Effekt auf sie.

“Bitte lass mich nicht zu einem Seefahrer auf einem Flaschenschiff werden, einem gläsernen Vogel auf dem Kaminsims.”

Hier drückt sich eine Entfremdung aus, die immer wieder eine still verheimlichte ist und der manch Schriftsteller in einer medial übersättigten Scheinwelt auch heute mit seinem Werk Paroli bieten will. Ausgeschlossen und unverstanden, ein Vogel im Käfig, gar im Grab mit der Sehnsucht sich in der freien Bewegung zu definieren.

“Ich fliege allein, abseits des Schwarms, auf langen Reisen durch Sturm und klares Wetter sommerwärts. Hört mir zu! … und sie schlug mit den Flügeln gegen die Tür der Finsternis, doch ihr machte keiner die Tür auf, denn keiner hörte sie.” 

Darin spiegelt sich die Angst vor Versteinerung, vielleicht auch die in einer Beziehung. Denn ihre idiosynkratrische Wahrnehmung registriert sehr wohl, dass die Beziehung ihrer Gastgeber zueinander auch eine männlich bestimmte ist. Die Hausfrau und Mutter Anne erregt ihr Mitleid, weil sie sich in der Ehe mit Philip und den Kindern doch nicht wirklich frei entfalten kann. An einer Stelle geht die weibliche Identifikation mit der Mutter Anne sogar so weit, dass sie deren Schwangerschaft mit ihrer Tochter Sarah in ihrem eigenen Bauch zu spüren glaubt. Es zieht sich eine starke, unterschwellige weibliche Solidarität durch den Text. Die Sensibilität in der Metaphorik Janet Frames ähnelt nicht nur in den Naturbildern der Katherine Mansfields, sondern scheint auch einer spezifisch weiblichen Sichtweise geschuldet. Ich empfand weniger die Erinnerungen an ihre Kindheit und das Familienleben in Neuseeland spannend, als die Unerschütterlichkeit, mit der sie ihre ganze innere Zerrissenheit, ihre Schuldgefühle und Ängste in so eindringlichen Bildern zum Ausdruck bringt, wie in einem Rausch der Selbsterkenntnis, die aber über sich selbst hinaus geht.

Dass dieser Roman noch nicht ganz in einer endgültigen Fassung vorlag, meine ich auch in den Übergangsstellen zur Ich-Erzählung von der neuseeländischen Kindheit zu erkennen. Ein lapidarer Satz wie im Stil von “Grace Cleave dachte” geht unvermittelt in die Ich-Form über und wechselt genauso abrupt wieder in die Außenperspektive der Sie-Form. Dem insgesamt stimmigen Gesamtzusammenhalt tut dies aber keinen Abbruch. In vielen der fünfundzwanzig Kapitel gelingt die Verschmelzung von Gegenwart und erinnerter Vergangenheit und den Unterschieden von Zeit und Ort sehr gut. Das Erinnern der wörtlichen Rede und der Redewendungen, Gesänge und eingeschobenen Gedichte von Eltern, Verwandten und Nachbarn erinnerte mich ein wenig an die Lektüre und Erzähltechnik von António Lobo AntunesAn den Flüssen, die strömen”, der auch viele Kindheitserinnerungen versatzstückartig verarbeitet.

Oft scheint eine Wort- und Sprachsensibilität durch, die sie Wörter wie helle Kieselsteine im Wasser betrachten lässt. Um mit Karl Kraus zu sprechen, “Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück,” analysiert Grace Cleave z. B. das Wort “Dichterin” wie folgt:

“… und selbst, wenn sie je ein Dichter würde, würde ihr nicht die Bezeichnung Dichter zuteil – sondern <Dichterin>, das Wort, das wie ein Unkrautvernichter auf die Person und die Arbeit einer Frau gesprüht wird, die Gedichte verfasst – mit diesem Mittel sind schon viele <eingeschläfert> worden…”

Mit dem Ende des Besuchs endet auch der Roman. Grace fühlt sich wie eine Versagerin. Nicht nur beim Musikhören muss sie allein sein, auch die Eloquenz, mit der sie in Büchern ihr Innerstes beschreibt, ist während des gesamten Aufenthalts hinter floskelhaftem Sprechen stumm geblieben. Als Leser aber dürfen wir daran teilhaben. Wofür sie sich in ihrer Andersartigkeit glaubte schämen zu müssen, wirkt auf den Leser als das Faszinierendste an ihr.

Ein durchgängiges Motiv ist die Vogelmetapher als eine Art Gegenentwurf, als Bild einer poetischen Existenz, die von der Realität unterdrückt wird. Sie sehnt sich nach der Ferne, möchte das kalte England gegen das sommerliche Neuseeland tauschen. Der Vogel war schon immer das Symbol des Menschen, den eigenen Körper hinter sich zu lassen und leicht, ungebunden und frei zu sein, dem Himmel näher und damit einer geistigen Welt, ob sie nun einen Gott kennt oder nicht. Bolaño, Joyce, welcher Dichter, welche Dichterin hätte sich nicht schon des Vogelmythos bedient. Bei Janet Frame ist es ein scheinbar verletzlich kleiner an der Oberfläche, aber mit einer ungeheuren Kraft im Innern. Ihr Schreiben ist die Membran zwischen den menschlichen Knochen und dem Vogelgefieder. Um mit James Joyce´”Ulysses” und christlicher Mythologie zu sprechen, “What´s bred in the bone, cannot fail me to fly”.1 Am Schreiben kann sie nichts hindern, egal wie schwer die Last, sie ist geflogen wann immer sie schrieb.

Handschrift Regensburg Mariae Verkuendigung 1330

Der Heilige Geist oder der Geist Gottes (godwit) als Vogel

1James Joyce: Ulysses. Penguin Books 1973 S. 25 unten “The ballad of Joking Jesus