Aléa Torik: Das Geräusch des Werdens. Leseeindrücke der Kapitel 1 bis 3.

„Ich will Schriftstellerin werden. Und sein will ich es auch. Obwohl ich die Bewegung, das „werden“ wichtiger finde.“

(Kommentar v. Aléa Torik , Juli 2010 im Blog Aisthesis)

Aléa_Torik_WerdenUnter dem hellblauen Umschlag mit den weißen und roten Schriftzügen von Autorenname, Titel, Verlag und literarischer Gattungsbezeichnung verbirgt sich ein grauer, stabiler Leineneinband, der über dreihundertsechzig in einem etwas engen Satzspiegel gedruckte Seiten verbindet, und dem man aufgrund der handlichen Dicke das Wort Roman sofort zutraut. Den Inhalt eines Buches zerpflückt man nicht, genauso wenig wie man Bücher ver- oder zerreißt. Mir liegt eine andere Vorgehensweise näher, die des Begleitens, eine Art symbiotische Annäherung an Protagonisten, Erzähler, Autor und dessen Sprache. Einem Buch muss man weder huldigen, noch es in Grund und Boden verdammen, die kritische Auseinandersetzung scheint mir der einzige Weg ihm gerecht zu werden.

Im ersten Kapitel des Romans wird uns ein Paar vorgestellt, der blinde Marijan und die große und schlanke Leonie. Marijan wurde mehr oder weniger von Leonie dazu gedrängt, die Ergebnisse seiner für einen Blinden zunächst ungewöhnlichen bis absurden Betätigung als Fotograf in einer Galerie mit dem Namen “Berlin am Meer” auszustellen, dem das Kapitel auch seinen Namen verdankt. Marijan sitzt in der Anfangsszene auf einem Stuhl, um eine Eröffnungsrede zu halten und empfindet die Stimmen der stehenden Besucher wie das Geräusch von Wasser, das über ihm zusammenschlägt und ihn ertrinken lassen könnte. Das ist ein einleuchtendes Bild für seine psychisch nervöse Befindlichkeit, denn er befürchtet, dass die Vernissage ein Flop wird. Im ersten Kapitel wird personal aus der Sicht des Blinden erzählt. Über diese Eingangsszene hinaus auch von den ersten Tagen ihres Kennenlernens vor einem Jahr, die davon gekennzeichnet waren, ob man den Schritt vom ersten Kuss zum Miteinanderschlafen vollzieht. Mit behutsamer, zurückhaltender Sprache, aber auch nicht prüde, wird ihre erste Nacht aus der tastenden Wahrnehmung Marijans geschildert. Wer hier “Feuchtgebiete” erwartet wird bewusst enttäuscht, denn es geht mehr darum, wie man körperlich tastend zueinander findet, indem man sich auch die eigene Scham eingestehen kann und Sex zwar nicht überhöht, aber auch nicht nur zum Rein-und-Raus-Spiel verkommen lässt. Der Schwerpunkt liegt auf dem Berührungsempfinden, das auch seelische Verbundenheit schafft.
Nach zwei Seiten gibt es also schon den ersten Zeitsprung in den Erinnerungen Marijans. Beschreibende Passagen wechseln mit kurzen Dialogen, die mir beim ersten Lesen auch ein wenig bemüht witzig vorkamen. Teilweise anstrengend empfand ich auch das Stilmittel der Reihung von knappen Sätzen, die sich auf Subjekt, Prädikat und Objekt beschränken. Das wiederholende “Er tat dies und er tat das” wirkt bisweilen monoton und überstrapaziert. Aber im zweiten und dritten Kapitel löst sich dieser narrative Knoten und die Sprache wird auch in der Struktur reicher. Nach dem Rückblick in die Beziehungsgeschichte endet das Kapitel in dem Moment, als Marijan seine Rede beginnt.

Aus dieser in der Ich-Form und direkter Rede erzählten Publikumsansprache besteht das komplette zweite Kapitel. Marijan versucht den Zuhörern seine “Sicht” der Welt näher zu bringen und erzählt die Geschichte seiner Erblindung, wie er sie im Alter von dreizehn Jahren mit Krankenhausaufenthalt und schwarzer Endgültigkeit erlebt hat. Das ist gut erzählt, wenn auch die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Erzählstrom samt Dialogen mit der Mutter tatsächlich eine Eröffnungsrede sein kann, nicht sofort einleuchtet. Diese kleine Unglaubwürdigkeit eines erzählerischen Kunstgriffs ändert aber merkwürdigerweise nichts an der gekonnten Erzählweise selbst über die Umstände seiner Erblindung. Mir fiel es jedenfalls leicht, über diese nicht ganz stringente Logik hinwegzusehen. Der endgültige Verlust des Sehens kulminiert am Ende im Bild des andauernden Regens. Die Welt ist nur noch als Geräusch wahrnehmbar, was auch philosophisch betrachtet wird. Denn es steckt etwas von der Sehnsucht darin, Leben jetzt eben neu zu entdecken und nicht an der Oberflächlichkeit und Käuflichkeit der Dinge haften zu bleiben. Was könnte poetischer sein als ein Blinder der fotografiert. Seit Beethoven weiß man, dass Taube ganze Symphonien schreiben können, warum sollte ein Blinder also seine akustische Wahrnehmung nicht umgekehrt in Fotografien ausdrücken? Die akustische, idiosynkratische Wahrnehmung der Welt als Geräusch darf man einerseits als Suche verstehen, der Welt eine andere Bedeutung abzugewinnen, aber gleichzeitig auch als Metapher für den allgemeinen Zustand der modernen Welt, die in ihrer Überreizung nur noch als chaotisches Hintergrundgeräusch existiert. Gerade poetische Sprache aber kann ihr einen Zusammenhang zurückgeben, den sie im alltäglich Erfahrenen längst verloren zu haben scheint. In der Wahrnehmung des Blinden müssen alle Geräusche erst zu einem sinnvollen Raum zusammengesetzt werden, auf der Textebene versucht genau das auch dieser Roman. Weiterhin aufgefallen ist mir die zum Ausdruck kommende Definition des eigenen Selbst über den Bezug zum Anderen, beim Liebespaar genauso wie bei der Orientierungsfähigkeit des Blinden. Erst der Andere stiftet neuen Sinn für das eigene Leben, andererseits sind die Anderen auch Bedrohung im Sinne eines möglichen Verlustes. Dazu passt der als eine Art Motto benutzte Satz vom Anfang des zweiten Kapitels:

“Nicht die eigene Blindheit, sondern das Sehen der anderen ist das Beunruhigende.”

Im dritten Kapitel beschreibt die namenlos bleibende Vorgängerin der neuen Dorfschullehrerin Clara die Siedlungsgeschichte des kleinen fiktiven Dorfes Mărginime, dessen Name der rumänischen Region in Siebenbürgen entnommen ist. Ein wenig wurde bei mir die Erinnerung an die Eingangskapitel Mircea Cărtărescus aus “Die Wissenden” wach, in denen er in einer an die Malerei Hieronymus Boschs erinnernden, surrealistisch überbordenden Sprachmalerei die Herkunft seiner bulgarischen Vorfahren beschreibt. In diesem Kapitel wird das stilistisch wesentlich schlichter, aber genauso eindrucksvoll poetisch ohne auf Übertreibung fixiert zu sein, erzählt. Die abergläubischen Geschichten um den unwiderstehlichen Tischler mit dem Silberblick, der seine Anziehungskraft an seine Nachkommen vererbt, jedoch immer etwas schwächer, bis sogar Gerüchte aufkommen, er hätte seine beiden gleichnamigen Zwillinge nicht mit seiner Frau gezeugt, sondern sie sich einfach selbst geschnitzt, bringen Farbe in diese Dorfgeschichte. Schon hier wird auch der Gegensatz von Stadt und Land deutlich. Im Dorf hat man seinen ureigenen Platz und fragt nicht nach dem Glücklichsein, in der Stadt, wohin es die Dorfbevölkerung immer mehr treibt, ist man ständig auf der Suche nach dem großen Glück, bleibt aber oft ein entfremdet Einzelner. Geschickt fand ich die Perspektive der Dorfschullehrerin gewählt, denn sie begreift sich wie der Schulhof als zur Mitte der Gemeinschaft gehörig und benutzt wie selbstverständlich das Wort “wir”. Zum Schicksal der Dorfgemeinschaft aber gehört neben der stetig wachsenden Landflucht aber auch das Missverhältnis zwischen der Zahl der Toten und der Neugeborenen. Der Kreis des Kapitels schließt sich, denn es beginnt mit dem Blick auf das grüne Tal und endet mit der Beschreibung des Friedhofs an den Hängen, über die einst die ersten Siedler gekommen waren. Das ganze wird ergreifend, aber auch sachlich und nicht larmoyant erzählt. Es ist, als ob man dem Ernst des Lebens, selbst dem Tod, nur mit einem eigenwilligen, lakonischen Witz begegnen kann.
Alle Autoren behaupten, sie würden in ihren Büchern nicht vorkommen. Die Fiktion wäre ihnen rein wie jungfräulicher Regen ins Schreibgehirn gefallen. Das ist natürlich Unsinn und so findet man auch ein bisschen Aléa in der großen, schlanken Leonie und auch in der erzählenden Lehrerin. Ja, viel von ihr findet man ausgerechnet in der männlichen Figur des Marijan, denn mit seiner blinden Sensibilität beschreibt auch die Autorin ihre wenn auch erdachte Bücherwelt. Experimentell oder postmodern würde ich den Erzählstil nicht nennen wollen, eher bedient er sich der Stilmittel der Moderne des Romans im 20. Jahrhundert, wie das Verteilen der Erzählperspektive (point of view-Technik) auf mehrere Erzähler. Die Sprache scheint nur oberflächlich einfach, beschreibt aber mal idyllisch oder auch knapp realistisch schwierige, menschliche Zusammenhänge. Dabei weht so etwas wie ein humanistischer Witz durch die Zeilen. Jetzt darf die Autorin sich ärgern, wenn mir doch nur eine Huldigung gelungen ist, was mich aber vom Weiterlesen nicht abhalten wird, denn alles kreist auch um das bisher nur angedeutete Schicksal der verschwundenen, sechzehnjährigen Schülerin Krisztina, von der man zu vermuten beginnt, sie könnte Opfer eines Gewaltverbrechens geworden sein. Die Sprache, die erzählerische Komposition und die latente Spannung machen einfach Lust aufs Weiterlesen. Vielleicht ist der Text in seiner eher traditionellen Erzählweise gerade deshalb modern, weil er sich weigert, ein modisch postmodernes Kleid zu tragen.