Literaturrezensionen sowie Kunst und Kultur eigener Art
Im Wartezimmer
Ulf saß in dem kleinen Wartezimmer des Arztes, das außer acht Stühlen, ein paar gerahmten Fotografien von einem Urlaub am Gardasee und einem Fenster zur Straße hin nichts zu bieten hatte. Im Augenblick rutschte er nervös auf einem der unbequemen Stühle hin und her und dachte an den Anfangsbuchstaben seines Vornamens. Er stellte sich vor, wie das große U ein Gefäß wäre, das seine Flüssigkeit nicht mehr fassen könne und die dann ungehindert über den Rand schwappte. Den obligatorischen Zeitschriftenständer und die Prospektflyer auf der Fensterbank konnte man in dieser Ödnis auch vernachlässigen. Die ganze Praxis war im Grunde eine erbärmlich funktional umgebaute Dreizimmerwohnung, in der das Linoleum mittlerweile mäßig nach Desinfektionsmitteln roch. Der Arzt gehörte sicher nicht zu der Sorte, die nur Privatpatienten behandelte. Das Personal allerdings, dem lustlosen Interieur entgegengesetzt, war sehr freundlich.
Das Charakteristische an Wartezimmern war das gegenseitige Schweigen, eine stille Übereinkunft, die jeder Neueingetroffene sofort nach der notwendigen Begrüßungsformel sich anschickte einzuhalten. Für Ulf hieß das, sich zirka eine halbe bis eine ganze Stunde zeitweise versunken träumend an alles Mögliche zu erinnern, bisweilen höchstens abgelenkt durch die übereinandergeschlagenen Beine einer jungen Frau gegenüber. In seinem Kopf vermischten sich ständig Bilder und Gedanken zu einem virtuos-farbigen Durcheinander, als hätte ein Maler seine komplette Palette in ein hohles Ei laufen lassen, um es dann auf der Leinwand zerschellen zu lassen. Es spielten sich darin viele Szenen ab, ein an unterschiedlichen Stellen und mit unterschiedlicher Intensität aufleuchtendes Gemisch aus sprunghafter Gleichzeitigkeit aller Dinge, an die er sich zu erinnern glaubte. Wie ein wanderndes Schlaglicht wendeten sich seine Gedanken den einzelnen Erinnerungsbildern zu.
Zwischendurch, wenn er wieder an eine der Oberfläche seines Bewusstseins nähere Gedankenschicht kam, kramte er in diversen Hosen- und Sakkotaschen nach seinem kleinen Handy oder tat anderweitig geschäftig. Zur Lektüre der Illustrierten ließ er sich nur selten herab. Wenn gar nichts mehr half, fing er an, sein Portemonnaie in allen Winkeln nervös zu durchsuchen. Dann zählte er wie beiläufig seine Scheine und Münzen nach, als müsse er sich so seiner eigenen materiellen Existenz in der Welt erst vergewissern. Wie er jetzt so kramte ganz hinten links im Fach, wo alles mögliche an Papierschnipseln sein letztes Dasein fristete bevor es endgültig weggeworfen wurde, fand er ein kleines, einmal gefaltetes, weißes Blatt, in dem anscheinend etwas noch Festeres steckte. Wie er jetzt das weiße Blatt auseinander faltete, fiel sein Blick erstaunt auf eine Fotografie von der Größe eines Passfotos. Er erinnerte sich schockartig, dass er selbst es auf dieses Format zugeschnitten hatte, sodass nur noch dieser eine Kopf, dies Lächeln und vor allem diese Augen übrig blieben. Er hatte es damals heimlich mit sich herumgetragen, denn ihn verband eine verliebte Schwärmerei mit der Person auf dieser Abbildung. Lange her, war seine erste Reaktion und gleichzeitig sah er die Gesichter einer Reihe anderer Frauen. Alle hatten ihm etwas bedeutet, waren Objekte seiner Projektionen gewesen, Verlängerungstentakeln seiner Sehnsüchte. Manchmal waren sie in Erfüllung gegangen, oft nicht.
Wie da so plötzlich aus seinem Portemonnaie, Flaschengeistern ähnlich die Gesichter seiner früheren Beziehungen und Angebeteten auftauchten, musste er an eine Erfahrung seiner Jugendzeit denken, die ihn damals beschäftigt und auch verunsichert hatte. Es war eine Zeit gewesen, in der er noch keine wirklich intimen Kontakte mit dem anderen Geschlecht gehabt hatte. Schwärmereien und unklare, pubertäre Vorstellungen von befremdender Weiblichkeit, die gleichzeitig triebhaft unbarmherzig anzog. Selbst die Vorstellung vom weiblichen Genital hatte noch etwas Unfertiges wie aus den gut versteckten aufklappbaren inneren Organen der Anatomiebücher, die seine Eltern, als er noch ein Kind war, vorsorglich im Nachttisch vor ihm versteckten, und die er damals dennoch gefunden hatte.
Er erinnerte sich an den kleinen Baggersee mit seiner Landschaft aus Sandkuhlen und mit Büschen bewaldeten steilen Hängen. Da war es wieder, das krause Haar ihrer Afrolook-Frisur, aber das eigentlich Verstörende war der Blickwinkel gewesen, als er auf dem Rücken im Sand lag und sie aufrecht nackt neben ihm stand. Der Anblick ihres Geschlechts schockierte ihn. Er empfand diese kleinen Schamlippen in ihrer Wulstigkeit, die wie mit einem Opernglas vergrößert wirkten, beinahe abstoßend, als wären Genitalien, ob männlich oder weiblich in ihrer aufdringlichen Fleischlichkeit doch sehr hässlich. Ob der kurze Blickkontakt ihr etwas von seinem Schock offenbart hatte, blieb ihm unklar. Aber es grub sich tief in seine Vorstellung von Scham ein, dass dieses Geschlecht eine Art Eigenleben führen konnte, irgendwie zur übrigen Person, die Klavier spielte, Bücher las und freundliche Gespräche mit ihm führte, eine beunruhigende Distanz herstellte. Es schien unbewusst prägende Augenblicke zu geben und ein solcher mochte dieser gewesen sein, sonst würde er sich jetzt nicht so intensiv wieder an ihn erinnern.
Dann dachte er scheinbar vollkommen unzusammenhängend an sein Jugendzimmer. Er hatte als Vierzehnjähriger in einer Manier, die gut zu einem Grufti gepasst hätte, die dunklen Maserungen des lackierten, hellen Holzes der Zimmertür auf der Innenseite mit weiß-grauer Wasserfarbe nachgezogen. So, dass eine gewölbeartige Höhle entstanden war, die wie eine Wallfahrtsstätte des Todes wirkte. Jedes Mal wenn sein Blick auf diese Tür fiel, sah er sich in einem Kahn über den Styx bis in diesen Schrein fahren, dessen Wände ihn zwar wie ein Uterus schützten und doch nur ein Echo seiner damaligen Verzweiflung waren.
Eine neue Szene kam ihm in den Sinn. Gerade wenn sich morgens in der Bettwärme auch die Versuchung zur Selbstbefriedigung breit machte, hörte er verschlafen die Geschäftigkeit auf dem Hof, mit der man die Schlachtung eines Schweines vorbereitete. Da richtete sich dann nichts mehr auf, sondern zog sich nicht nur an der Stelle alles jämmerlich und schrecklich in ihm zusammen. Er erinnerte sich, wie er unter die Decke gekrochen war und versuchte, sich die Ohren zuzuhalten. Denn gleich würde er kommen, dieser letzte, markerschütternde Schrei einer Kreatur, die begriff, dass der Tod sie unbarmherzig in seinen Krallen hatte, obwohl sie für die um sie herumstehenden nur das Objekt Schwein als Mittel zu ihrer fleischlichen Ernährung war. Das Schlimmste aber war nicht das Quieken als solches, sondern dass es unwiderruflich von einem anderen Geräusch abgelöst werden würde: dem dumpfen Knall des Bolzenschussgerätes. Danach breitete sich eine Stille in der Morgendämmerung aus, als hätte auch für ihn die Welt aufgehört zu existieren. Seine Phantasie aber sah das Schwein am Haken hängen und das Blut in die Holztröge laufen. Er wäre gern weit weg gewesen, in ein Phantasieland geflohen, und würde doch am Nachmittag mit am gemeinsamen Tisch des Schlachtfestes sitzen.
Was aber hatte das mit der Afrolook-Frisur jenes Mädchens zu tun, das ihn auf dem Foto in einem fernen Winter über die Schulter angelächelt hatte, ihn und seinen Ford 17 M? Wie weit weg war dies alles nun schon und jetzt saß er, ein älterer Mann, als potentiell operable Schweinehälfte auf einem Plastikstuhl in einer Kleinstadtpraxis. Ihm gegenüber wieder eine junge Frau in hellgrauer Jogging- oder Pluderhose, die jetzt als letzte vor ihm aufstand und über dem heruntergerutschten Hosenbund ein kleines Tattoo sehen ließ. Das ließ ihn zurück in die Realität finden, denn nach ihr, die ihn keines Blickes gewürdigt hatte, war er dran. Wartete er auch heute noch auf eine Art Erlösung, auf ein Glück, das nicht kam, vielleicht hatte er sein ganzes Leben in einem Wartezimmer verbracht.
“Herr Gärtner bitte!”, hörte er plötzlich die Stimme des Arztes. Mit einer Reaktion, die der auf einen erhaltenen Befehl ähnelte, erhob sich Ulf und ging mit einer Entschlossenheit, die so gar nicht zu seinem inneren Gemütszustand passen wollte, durch die bereits offen stehende Tür in das Behandlungszimmer. Sein Warten hatte ein vorläufiges Ende gefunden.
Diesen Text habe ich mir auf meinen Kindle geschickt, um ihn ganz in Ruhe zu lesen. Die Verschränkung der Erinnerungen mit der Situation im Wartezimmer finde ich sehr gelungen. Besonders gefällt mir, dass nichts „Symbolisches“ diesen Erinnerungen anhaftet; sie kommen und gehen, wie Traumbilder – und ihr Verlöschen löst die sanfte Melancholie aus: Ob alles nur „Warten“ war? Aber d a s hat ja ein „vorläufiges Ende“ – wie immer, wenn Innenwelt und Außenwelt auseinander fallen und daraus diese Dynamik entsteht.
ich schreibe ungern etwas zum eigenen Text, denn jede Erklärung beschränkt einen potentiellen Leser in seiner Lesart. Das Warten halte ich für eine universell menschliche Situation, die von jedem, ähnlich dem Text, wieder anders beantwortet werden muss. Es gibt ja sehr viele Wartesituationen, die in einer Arztpraxis löst auch unterschiedliche Reaktionen aus, Nervosität zum Beispiel oder Geschwätzigkeit über das eigene unermessliche Leiden. Die häufigste aber ist erst einmal das Schweigen, was vermutlich bei jedem dann eine Introspektion für diesen Zeitraum auslösen kann. Manche Erinnerungsbilder lassen sich nur schwer verdrängen. Dass ich sie mit dem Warten verknüpfte, geschah vermutlich zunächst ganz unbewusst. Das Warten fällt irgendwie immer aus der Zeit, auch wenn wir es gar nicht bemerken, vielleicht dachte ich aber auch nur kurz an Godot.
Wie auch immer, schön dass der Text jetzt bei Ihnen auf dem Kindle gelandet ist. Ich dachte bisher, man könne sich damit nur Bücher oder epub- und pdf-Dateien draufladen, aber möglicherweise versteht der Kindle auch html. Oder sie haben aus der Internetseite erst eine Textdatei gebastelt und dann draufgeladen.
Ich habe gerade Ihren letzten umfangreichen documenta-Bericht gelesen. Anders wie sie es als Gesamterlebnis beschreiben, war es vor Jahrzehnten auch für mich nie, als ich noch Beuys´ Honigpumpe besichtigte. Anregungen, bleibende Eindrücke und Irritationen, Kunst eben. Von der weiteren „Punk“-Lektüre werde ich wohl auch nochmal Bericht erstatten.
Da bin ich gespannt. —Zum Warten: Ach, ich spür´s mal wieder, was mir entgeht und warum, dass ich so ungeduldig bin…
Ich kann mir aus dem Netz alles auf den Kindle schicken mit Instapaper, ein kostenloses Programm, das man sich einfach auf dem PC oder Netbook installieren kann.
Es ist praktisch, weil es ja oft vorkommt, dass man im Netz einen hochinteressanten Text findet, aber gerade keine Zeit hat, ihn in Ruhe zu lesen. Dann halte ich ihn mir mit Instapaper fest und schicke ihn ans Kindle. Heute morgen die gerade im New Yorker erschienene Erzählung von Alice Munro: Amundsen:
Instapaper kannte ich nicht, habe ja auch noch keinen Kindle, aber neugierig wie ich bin, habe ich mich mal angemeldet und kann jetzt auch zum später Lesen sammeln. Die Möglichkeit zur reinen Textansicht gefällt mir, an „Kindle für PC“ kann man nicht schicken, macht auch nicht so richtig Sinn.
Alice Munro muss ich erst noch entdecken, spiele aber mit dem Gedanken, mir den Erzählungsband „Zu viel Glück“ mit dem nächsten Quartalskauf bei der Buechergilde zuzulegen.
Diesen Text habe ich mir auf meinen Kindle geschickt, um ihn ganz in Ruhe zu lesen. Die Verschränkung der Erinnerungen mit der Situation im Wartezimmer finde ich sehr gelungen. Besonders gefällt mir, dass nichts „Symbolisches“ diesen Erinnerungen anhaftet; sie kommen und gehen, wie Traumbilder – und ihr Verlöschen löst die sanfte Melancholie aus: Ob alles nur „Warten“ war? Aber d a s hat ja ein „vorläufiges Ende“ – wie immer, wenn Innenwelt und Außenwelt auseinander fallen und daraus diese Dynamik entsteht.
Liebe Melusine,
ich schreibe ungern etwas zum eigenen Text, denn jede Erklärung beschränkt einen potentiellen Leser in seiner Lesart. Das Warten halte ich für eine universell menschliche Situation, die von jedem, ähnlich dem Text, wieder anders beantwortet werden muss. Es gibt ja sehr viele Wartesituationen, die in einer Arztpraxis löst auch unterschiedliche Reaktionen aus, Nervosität zum Beispiel oder Geschwätzigkeit über das eigene unermessliche Leiden. Die häufigste aber ist erst einmal das Schweigen, was vermutlich bei jedem dann eine Introspektion für diesen Zeitraum auslösen kann. Manche Erinnerungsbilder lassen sich nur schwer verdrängen. Dass ich sie mit dem Warten verknüpfte, geschah vermutlich zunächst ganz unbewusst. Das Warten fällt irgendwie immer aus der Zeit, auch wenn wir es gar nicht bemerken, vielleicht dachte ich aber auch nur kurz an Godot.
Wie auch immer, schön dass der Text jetzt bei Ihnen auf dem Kindle gelandet ist. Ich dachte bisher, man könne sich damit nur Bücher oder epub- und pdf-Dateien draufladen, aber möglicherweise versteht der Kindle auch html. Oder sie haben aus der Internetseite erst eine Textdatei gebastelt und dann draufgeladen.
Ich habe gerade Ihren letzten umfangreichen documenta-Bericht gelesen. Anders wie sie es als Gesamterlebnis beschreiben, war es vor Jahrzehnten auch für mich nie, als ich noch Beuys´ Honigpumpe besichtigte. Anregungen, bleibende Eindrücke und Irritationen, Kunst eben. Von der weiteren „Punk“-Lektüre werde ich wohl auch nochmal Bericht erstatten.
Herzlichen Gruß
Dietmar
Da bin ich gespannt. —Zum Warten: Ach, ich spür´s mal wieder, was mir entgeht und warum, dass ich so ungeduldig bin…
Ich kann mir aus dem Netz alles auf den Kindle schicken mit Instapaper, ein kostenloses Programm, das man sich einfach auf dem PC oder Netbook installieren kann.
http://www.instapaper.com
Es ist praktisch, weil es ja oft vorkommt, dass man im Netz einen hochinteressanten Text findet, aber gerade keine Zeit hat, ihn in Ruhe zu lesen. Dann halte ich ihn mir mit Instapaper fest und schicke ihn ans Kindle. Heute morgen die gerade im New Yorker erschienene Erzählung von Alice Munro: Amundsen:
http://www.newyorker.com/fiction/features/2012/08/27/120827fi_fiction_munro
Die lese ich dann heute Abend.
Liebe Grüße
M.
Liebe Melusine,
Instapaper kannte ich nicht, habe ja auch noch keinen Kindle, aber neugierig wie ich bin, habe ich mich mal angemeldet und kann jetzt auch zum später Lesen sammeln. Die Möglichkeit zur reinen Textansicht gefällt mir, an „Kindle für PC“ kann man nicht schicken, macht auch nicht so richtig Sinn.
Alice Munro muss ich erst noch entdecken, spiele aber mit dem Gedanken, mir den Erzählungsband „Zu viel Glück“ mit dem nächsten Quartalskauf bei der Buechergilde zuzulegen.
Lieben Gruß zurück
D.