Mircea Cărtărescu: Travestie
“Bevor ich ging, hauchte ich Dampf über dein Bild
und schrieb mit dem Finger auf den Spiegel:
VERSCHWINDE.”
Sind Sie ein Mann oder eine Frau? Können sie sich vorstellen beides gleichzeitig zu sein? Das für die meisten von uns so eindeutige Geschlecht gibt meist keinen Anlass zum Zweifel. Was aber wäre, wenn dem vor Testosteron strotzendem männlichen Muskelpaket außer seinem Riesenphallus nun plötzlich zusätzlich große Brüste wüchsen. Oder die von zartester Haut umkleideten makellosen weiblichen Konturen würden beim Blick über den Busen auf ein fleischiges Ding zwischen den Beinen sehen mit einem faltigen Gebilde zweier Kugeln darunter? Dann würde das Geschlecht vermutlich zu einem phantasmagorischen Albtraum. Lesen Sie Mircea Cartarescus “Travestie” und sie befinden sich in der Vision einer Welt, die aus der Dialektik der Geschlechter eine psychedelische Reise zum “wahren” Ich macht. Wie im Schleudergang einer Waschmaschine wechseln die Beschreibungen von Paradies und Hölle, Körper und Geist, rechter und linker Gehirnhälfte. Eine Reise zurück in die eigene Jugend, in der die Eindeutigkeit unserer Geschlechtsmerkmale noch auf der Suche nach verlässlicher Identität ist. Wo wir den Aufbruch in die eigene Sexualität vielleicht doch in kurzen Momenten einer gleichgeschlechtlichen Entdeckung erleben. Pubertierende Jünglinge mit ihren rituellen gemeinsamen Masturbationen oder eine fast symbiotische Beziehung zur ersten Freundin im zarten Mädchenalter.
Aber man kann sich dem Roman auch sachlich und strukturell nähern. Stenogrammartig: Keine Kapitel, längere Absätze, ein Ich-Erzähler, mehrere Zeitebenen seines in vielfacher Hinsicht, nicht nur geschlechtlich zerrissenen Lebens. Der siebzehnjährige Victor hat ein Schicksal, das sich erst am Ende des 170 Seiten starken Romans auflöst, nachdem uns der vierunddreißigjährige Autor eines Manuskripts, das wir jetzt als Buch in Händen halten, von seiner Kindheit und seiner Jugend in der ersten Hälfte der siebziger Jahre erzählt und den Folgen einer Ferienlagerzeit, die bei ihm Neurosen und Psychosen aufbrechen lassen. (man beachte die wie zwei Hirnhälften geteilte Lebenszeit) Die Zeit lässt sich anhand des erwähnten Lou Reed Songs “Take a walk on the wild side” gut festlegen, dessen Titel auch die Atmosphäre der Jugendphase der Schulklasse beschreibt. Essentiell wichtig ist die Erzählperspektive des Romans. Die Busfahrt in das Gutshaus im rumänischen Hinterland, der komplette Aufenthalt mit seinen Ereignissen wird von der Jetztzeitebene des schreibenden erwachsenen Autors ständig unterbrochen. Sein Vergangenheitsego, der siebzehnjährige Victor, also er selbst, ist der Ansprechpartner des Erzählers. Ihm, also eigentlich sich selbst, erzählt er die Geschichte seiner geschlechtlichen Identitätskrise.
In den fünfziger Jahren wird ein Kind geboren, dessen Geschlechtsmerkmale sowohl männlich als auch weiblich sind. Zunächst vier Jahre lang wird das Kind als Mädchen erzogen, dann wird es operativ zum männlichen Geschlecht verurteilt. Diese Festlegung führt in der Adoleszenz zu einer melancholischen, vereinsamten Wahrnehmung vor allem der sich rüpelhaft äußernden Heterosexualität der Klassenkameraden. Die Welt ist sich ständig in einem strudelartigen Auflösungsprozess. Nymphenhafte Statuen werden mit männlichem Penis gesehen, Frauen bestehen aus bedrohlichen vaginalen Öffnungen, von denen man im spinnenartigen Netz gefangen genommen wird, die aber auch gleichzeitig paradiesische Nymphen sein könnten.
Die ganze Welt teilt sich im Aufruhr der strapazierten Nervenenden in ein Rayuela-Spiel aus Himmel und Hölle. Die literarischen Anspielungen und Literaturzitate ergeben sich aus dem Schriftstellerberuf des Erzählers. Rilke, immer wieder Rilke, Baudelaire, Musil und Proust, der dadaistische rumänische Schriftsteller Tristan Tzara lassen grüßen. Manchmal wirkt diese Einbindung der bekannten Größen europäischer Weltliteratur etwas künstlich, aber sie mag der jugendlichen Euphorie eines angehenden Dichters geschuldet sein und passt somit zur Hauptfigur. Dass der Hermaphrodit nun gleichzeitig Schriftsteller ist erscheint als narrativer Schachzug mehr einer formalen Notwendigkeit geschuldet. Seinen Kulminationspunkt findet die sich bahnbrechende Sexualität Victors, als er auf der Abschlussveranstaltung des Ferienlagers in Budila, einer Art “bal travesti”, auf den kleinen, kräftigen Lulu trifft, der sich als Frau kostümiert hat. Gleichzeitig angezogen und abgestoßen symbolisiert diese Figur seine eigene zwiespältige Sexualität, die zwar äußerlich ziemlich männlich, aber kein inneres Gleichgewicht hat. Freund Victors ist er gleichzeitig Erinnerung an seine Schwester, die er ja, wie man später erfährt, selbst bis zum Alter von vier Jahren war. Das als Hermaphrodit geborene und operativ zum Jungen verwandelte Kind, erinnerte mich an den Film “The Crying Game” von Neil Jordan und die Rolle der verführerisch, sinnlichen Dil, die ein männlicher Jaye Davidson spielte. Ich erinnere mich gut an meine Verstörung, als das männliche Geschlechtsteil an der so zarten, fraulichen Dil auftauchte.
Die rauschhafte metaphorisch mit Körper-, Farben, Tier- und Naturbildern aufgeladene Sprache, die sich in grotesken, abstrusen Bildwelten wie zum Beispiel die Metapher der Spinne mit ihren Greifarmen als weibliches bedrohendes Geschlechtsteil oder andere morbide Wurm- und Urinalwelten entlädt, ließen mich an die Filme “Die Fliege”, “Naked Lunch” oder “eXistenZ” von David Cronenberg zurückdenken, die wiederum von William S. Burroughs beeinflusst sind. Zumindest am Anfang erschien die Sprachwahl mir zu blumig, zu barock ornamental. Der Farbenräusche kann man auch überdrüssig werden.
“Jedes Segment ihrer Füße hatte eine andere Farbe, es waren irisierende, karnevaleske, die verrücktesten, die heitersten Farben. Ihr Brustkorb leuchtete in einem lebendigen Purpurrot, die Kieferfühler in flammendem Türkis, der Bauch in der deliziösen Farbe der Zyklamen, mit Härchen wie jenes Grün, das sich mit Ach und Krach ins Zitronengelbe ausstreckt, und mit rosa Strecken und beinahe unsichtbaren erdbeerfarbenen Ringen. Haselnußbraun, Ultramarin, Kanariengelb, Ocker und Mahagonirot, das Bläulich-Grüne, das langsam und in einem unendlichen Zerfließen ins Grünblau übergeht,das Jadefarbene, die Pfauenfeder…” (S. 67 unten)
An die hypersensiblen Beschreibungen von Farben und Gerüchen in dieser Kompaktheit muss man sich erst lesend herantasten, das lyrische Erzähler-Ich schwelgt geradezu in einer sensibel, romantisierenden oder bizarr morbiden Sprache. Sie ist zwar genau und sehr einfühlsam, kann in ihrer Opulenz aber auch irgendwann den Lesefluss ermüden. Explosionsartig schießt hier eine zerebrale Phantasie traumartig an eine Oberfläche, die die Grenze zwischen Außen- und Innenwelt in überschäumenden Bildern verwischt.
Dann aber gibt es auch das Gegenbeispiel um Seite 100 herum, wo das adoleszente Gemüt nicht besser beschrieben werden könnte:
“Wie seltsam, wie seltsam ich damals war! Wie weich, wie ungeformt, wie verfügbar das Fleisch meiner Psyche war! Meine Hoden wiesen Windungen auf, Lappen und Höhlungen, während mein Hirn das Sperma des Traums absonderte. Gelbe Abenddämmerungen ließen sich wie Leintücher über den alten Wohnblocks nieder und schmerzten mich, als wären sie meine eigene Haut gewesen, die baufälligen Häuser spürte ich wie innere Organe. Ich befand mich innen und außen, oben und unten, wie ein Embryo im schwarzen Bauch der Welt. Manchmal stellte ich mir vor, ich sei ein nach außen gewendeter Handschuh, und die äußere Welt sei mein Blut, meine Lungen, meine Bauchspeicheldrüse, die Gewebeflüssigkeit, Rippen und Wirbelsäule, während es im tiefen Inneren meines Leibes hell sei, die Sonne scheine, blendende Göttlichkeit. Sehr oft träumte ich, Gegenstände allein durch meinen Willen bewegen zu können: Sie gehorchten meiner ausgestreckten Hand und beeilten sich, von ihrem Platz wegzuhüpfen und mir entgegenzueilen. Träume, ich hätte Brüste und eine Vulva, wäre alles, Mann und Frau, Kind und alt zugleich, Wurm und Gott, alles eingehüllt in ein betäubendes Fieber. Aber obwohl ich alles war – welch eine Frustration!, welche Entsagung, welch eine Sehnsucht! Als existiere alles nur, um sich zu einem unausdenkbaren, lediglich mit den heißen Tentakeln des Fiebers und der Leidenschaft zu berührenden Hyperalles zu runden – mit dem Nichts, dem ruinierten und wurmstichigen leeren Raum verbündet.”
Victor fühlt sich als das unverstandene Besondere, er verachtet die Vulgarität seiner Mitschüler. Ihre westlich geprägten, sexistischen Adoleszenzrituale widern ihn an. Er kämpft einen nicht aufzulösenden Kampf zwischen Geist und Geschlechtlichkeit. Die Latrine und das paradiesische grüne Tal, die vegetative Natur, scheinen die real damit korrespondierenden äußeren Orte des Ferienlagers zu sein. Die Handlungsorte sind Bukarest, ein Gutshof in Budila und frühe Familienbilder aus einem rumänischen Dorf.
Auf andere Romane des Autors bin ich nach diesem Kurzroman neugierig, zum Beispiel auf die Trilogie “Orbitor”, die sich mit der Aufarbeitung der gesamten Ceaușescu-Ära beschäftigt, von der bisher aber nur der erste Teil “Die Wissenden” übersetzt zu sein scheint. Rumänien ist kein osteuropäisches Entwicklungsland der Literatur, so erschien es womöglich nur einem überheblichen westeuropäischen Blick. Man muss schon in alle Himmelsrichtungen sehen lernen, nicht nur nach Süden, Norden, Westen oder eigene Nabelschau betreiben. Auch der Osten Europas kann literarische Schätze beherbergen.
Für mich macht diese Literatur einen Blick frei für eine Toleranz allen Formen menschlicher Sexualität gegenüber. Mich ließ sie auf einzigartige Weise Anteil nehmen am Schicksal eines Intersexuellen. In dieser überbordenden, sprachlich visionären Form habe ich das bisher überhaupt noch nie irgendwo so umgesetzt gefunden. Beim Blick in den Spiegel sollten wir uns selbst fragen, ob wir bereit sind, die Schöpfung so anzunehmen wie sie ist. Nur mithilfe des Schreibens, dem stetigen Prozess einer Katharsis, gelingt es dem Erzähler zur eigenen schrecklichen Vergangenheit zu sagen: “VERSCHWINDE.”
Ein aktueller Artikel in der NZZ März 2010 “Das Glück einer monströsen Adoleszenz”
Das klingt spannend. Doch frage ich mich, ob ich selbst mich j e t z t, in dieser Phase meines Lebens, in der ich meine Weiblichkeit wieder entdecke, einer solchen Reise stellen kann. Aber vielleicht wäre gerade das eine richtige Art, dieser neu zu begegnen. Sie haben mich jedenfalls für dieses Buch sehr interessiert. Danke!
Liebe Melusine Barby,
es gibt Stellen in dem Roman, an denen das Weibliche als schrecklich bedrohlich geschildert wird und mit eher abstossenden Metaphern. Das ist aber lediglich den diffusen Erinnerungen an die frühkindliche Mädchenphase bis zum Alter von vier Jahren geschuldet, die der Erzähler als Spiegelbild einer Schwester erlebt, die er selbst war. Ich glaube, dass sowohl Männlichkeit als auch Weiblichkeit bedrohliche Phantasiepotentiale für das jeweils andere Geschlecht beinhalten. Damit ist aber keinesfalls eine Herabwürdigung des Weiblichen gemeint, auch wenn das beim Lesen so empfunden werden kann.
Mein Eindruck von Ihnen, der sich ja nur auf eine virtuelle Bekanntschaft bezieht, sagt mir, dass Sie sich jeder Reise stellen können, so dunkel, hell oder verstörend sie auch sein mag. Ihre Weiblichkeit, ob Frau, Mutter, Mädchen, Geliebte, Autorin kann dabei gar keinen Schaden nehmen.
Lieber Dietmar,
das hat ja nun gedauert mit meinem Kommentar. Ich hatte viel um die Ohren. Vor allem eine Mütze, ich trage so eine Wollmütze, die ich über die Ohren ziehen kann. Das sieht ziemlich gut aus, die Mütze hat ein norwegisches Muster, ein Norwegermützenmuster!
Es freut mich, dass Sie sich mit Rumänien und seiner Literatur auseinandersetzen. Ich kenne das Buch von Cărtărescu nicht, habe aber einmal einen rumänischen Freund erzählen hören, dass es gut sei. Die Übersetzung ist von Ernest Wichner und der ist ein sehr versierter Übersetzer, der auch einen Zugang zu Cărtărescu hat. Es ist also davon auszugehen, dass es auch nach der Übersetzung noch ein gutes Buch ist. Der Autor wird im Rumänischen für seine Sprachmächtigkeit gelobt. Das Rumänische ist eine sehr sinnliche Sprache, die mit dem Bauch gesprochen wird, das Deutsche wird mit dem Mund formuliert. Diesen Hiatus muss ein Übersetzer überwinden.
Ihre Rezension hat mir Lust auf die Lektüre gemacht. Ich trage mich seit einiger Zeit mit dem Gedanken, ein rumänisches Jahr einzulegen, literarisch gesehen. Aber für diese Art der Vermittlung fühlen sich andere eher berufen als ich. Es werden derzeit recht viele Texte aus dem Rumänischen ins Deutsche übertragen. Ich hätte da einige interessante Titel. Ich denke darüber noch einmal nach. Wahrscheinlich werde ich dieses Buch lesen und vielleicht auch etwas dazu sagen. „Die Falschmünzer“ können mich nicht zwei Monate beschäftigen.
Im Grunde interessiert mich das Thema Intersexualität, Transsexualität oder Hermaphroditismus nicht sonderlich. Aber literarisch sind Grenzsituationen immer interessant. Es werden nirgends so viele Menschen umgebracht wie in Büchern: weil diese Situationen die Beteiligten in Extreme emotionale Verhältnisse versetzen und da sind Menschen dann immer interessant.
Ich sehe mit Erstaunen, dass Sie auch Rumänisch können!
Herzlich
Aléa
Liebe Aléa,
auf die sehr gute Übersetzung bin ich gar nicht eingegangen, eine Unterlassungssünde. Wenn das Rumänische „eine sehr sinnliche Sprache “ ist, ist davon gerade in diesem Buch dank der Übersetzung viel erhalten geblieben. Vielleicht lesen Sie es ja mal auf Rumänisch, wäre dann doch ein interessanter Vergleich. Ich würde „Rumänisch können“, gerade musste ich „Orbitur“ in „Orbitor“ korrigieren und „bal travesti“ ist auch mehr aus dem Französischen geklaut. Außer Englisch, Französisch und ein paar Brocken Latein ist bei mir nichts weiter an Fremdsprachen zu holen. Aber im Moment schwelge ich in einer gefunden Musikcassette mit der universellen Sprache der Musik. Dieser ewig nostalgische Blick zurück in die eigene Jugend. „Nostalgia“ hieß glaube ich das Debüt Cartarescus. Ich warte sehnsüchtig auf das Ihre. Mit 34 hält der Ich-Erzähler in „Travestie“ schon Rückblick auf sich selbst als Siebzehnjähriger. Sie sind halb so alt wie ich, aber ist es so einfach, immer nur den Jüngeren zu beneiden?
Gern würde ich ja bei Ihrer Lesereise einsteigen, aber Rayuela ist nicht einmal halb gelesen und da liegt noch soviel anderes ungelesen herum, z. B. der Erzählband „Frauen. Starke Erzählungenen über das starke Geschlecht„.
Ich frage mich, warum es den zweiten und dritten Teil von „Orbitor“ noch nicht auf Deutsch gibt. Cartarescu lebt ja zeitweise in Berlin, den NZZ-Artikel fand ich interessant. Vielleicht lese ich ja noch „Die Wissenden“.
Jetzt grabe ich weiter musikalische Jugendsünden aus und gehe danach Schneeschieben. Am Wochenende soll es dem Schnee dann ja so ergehen wie dem Schneemann in der Wüste bei Bolaño. Ach, wie schön wir uns doch am Anfang mal in der Wolle hatten und heute sehe ich Schneeflocken fallen auf Ihr rotbraunes Haar.
Herzlichen Gruß zurück
und ich wandele hiermit meine Einzelbestellung in ein Abonnement aller erscheinenden Titel um.
Dietmar
An welche interessanten rumänischen Titel denken Sie denn da bei dem „rumänischen Jahr“?