Albert Ehrenstein:Der Selbstmord eines Katers

balou_web

Unser Maine-Coon-Kater Balou.
Er ist leider zu früh vor einigen Jahren überfahren worden.

Diese kurze expressionistische Erzählung des österreichisch-jüdischen Schriftstellers Albert Ehrenstein erschien 1912 und kann einmal mehr zum Anlass genommen werden, über das Verhältnis von Menschen zu Tieren nachzudenken. Der Grundstein für jegliches Missverhältnis dieser beiden biologischen Arten scheint mir darin zu bestehen, dass der Homo Sapiens von der Annahme ausgeht, wir hätten es hierbei mit zwei völlig verschiedenen Kategorien zu tun. Meist denkt sich der Mensch in seiner Gottähnlichkeit und selbstreflektierenden Intelligenz, er wäre dem Tierreich nicht mehr zugehörig und stände als Krone der Schöpfung an der Spitze des Planeten. Die Evolutionstheorie Darwins hat daran wenig geändert. In vielfältiger Hinsicht ist unser Verhältnis zu Tieren bis heute zwiespältig.

In Form einer Ich-Erzählung beschreibt Ehrenstein den Gymnasiasten Hugo Herrensein, der sich beim Abitur einer Nachprüfung unterziehen muss. Einen autobiographischen Hintergrund darf man getrost annehmen, zumindest wird er literarisch verwertet, denn der junge Ehrenstein war wenige Jahre vor der Veröffentlichung selbst Gymnasiast in Wien und Hugo heißt in der ersten Fassung noch Albrecht oder Albert. Auffällig ist von Anfang an, dass die übliche Unterscheidung Mensch/Tier relativiert wird und sich das Ich des Erzählers gedanklich immer mehr in das Tier hineinprojiziert. Diese Identifikation jedoch offenbart erst später ihren Ursprung in einer als schwere Belastung empfundenen Schuld. Die Schuld am Tod des Katers, den der Erzähler in einem Gefühlsausbruch mit einem grausamen Fußtritt auf den Misthaufen befördert hat, wird nur langsam thematisiert. Zunächst beweist der Erzählende Mitgefühl und Einfühlungsvermögen in die Lebensumstände von Katzen. An vielen Stellen wird deutlich, dass der Autor Ehrenstein selbst gut über die Verhaltensweisen von Katzen Bescheid wusste. Über das Verhalten während sie rollig sind oder die Sitte der Katzen, ihren menschlichen Mitbewohnern erbeutete Mäuse als Geschenk darzubringen, berichtet er sehr genau und witzig.  Ironisiert wird selbst das Verscharren der Hinterlassenschaft von Katzen als geringfügiges Erbe, das die Menschheit nicht kümmert.

Der österreichische Humor, der sich zum bitteren Sarkasmus steigern kann, durchzieht die ganze Erzählung und schafft einen sprachlich hohen Reiz. Das Einstreuen von französischen und lateinischen Bezeichnungen lässt die humanistische Bildung des Gymnasiasten durchblicken. Da ist von Remplaçanten die Rede, das Feindesland wird mit iniquo loco bezeichnet, im Chemieunterricht hat man das Toluol vernachlässigt und der angebeteten Hauswirtschafterin Sabine will man mit den erotischen Radierungen von Félicien Rops näher rücken. Ins Schmunzeln gerät man auch durch die Verwendung von Austrizismen, die in der fünfbändigen Werkausgabe sogar manchmal weggeschliffen werden. Aus einem Schleiferl Sabines wird dann eine einfache Schleife. Eine Selbstanklage lautet zum Beispiel: “Halloh! Der Oberteufel bin i!” Die Sprache kann andererseits aber auch sehr poetisch werden, noch ein Beispiel: “Kaum Nacht über die Erde gefallen war, ob nun Regenschauer uns anprusteten oder aus blauhallendem Himmel der Mond uns sein kalkweißes Licht ins Gesicht schlug,…”, und sie gewinnt durch diese scheinbaren Gegensätze erst ihre Eigenart. Es ist ein grotesker Humor, der sprachlich zwischen dem Charme eines Wiener Schmäh und spöttischer Verachtung für die eigene Existenz hin und her schwankt.

Die Handlung spielt auf einem Gehöft in Österreich, wo der junge Herr einen zugelaufenen, räudigen Kater bei sich aufnimmt, den er Thomas Kerouen nennt. Der Kater bekommt nicht nur einen menschlichen Vor- und Nachnamen, auch im Verhältnis zum anderen Geschlecht werden Parallelen zum Ich-Erzähler gezogen. Die Mensch/Tier-Ebene ist ständig am verrutschen. Als räudig empfindet sich auch der angehende Student in seinen gesamten, unsicheren Lebensumständen. Der aufgenommene, einjährige Kater wird ihm schnell zum engen Freund, der sogar in seinem “Kabinett” schlafen darf. Die Hauswirtschafterin gibt allerdings nicht seinem Werben, sondern dem seines älteren Cousins und Konkurrenten Robert nach, der bewusst abfällig als “Kadettoffizierstellvertreter” bezeichnet wird. Der Kater stellt  auch einer Katzendame Miaulina nach und muss sich ebenfalls gegen Konkurrenten wehren. Bei einem erfolgversprechenden Annäherungsversuch an Sabine kommt ihm der Kater, der ihm vielleicht die Zuneigung zur Begehrten streitig machen will, in die Quere und er befördert seinen Freund mit einem grausamen Fußtritt beiseite. Er möchte vor Sabine keine Schwäche für Tiere zeigen. Der Arbeiter Janku hat diese Behandlung mitangesehen und als der Gymnasiast einige Tage abstand sucht von seinem gescheiterten Eroberungsversuch, nimmt er sich an seinem Herrn ein Beispiel und erschlägt den Kater mit einem Stein. Der kleine schwarze Kater hatte ihm täglich seinen Frühstücksspeck aus der Arbeitsjacke gestohlen. Diesen Vorgang interpretiert der Erzähler nun als Selbstmord des Katers, der ihm seine körperliche und seelische Grausamkeit nicht verzeihen konnte. Wie zur damaligen Zeit üblich, waren Tiere als Sachen zu behandeln und so wird eine Selbstanzeige auf der Wache als völlig verrückt abgewiesen. Der letzte Satz lautet vom Erzähler dann trotzig: “Ich stelle die Menschheit dem Kommissariat.

Ein anderer zentraler Satz der Erzählung, der schon früher fällt, lautet: “In mir aber lag der Wunsch und Trieb, alles zu knechten.” Damit ächtet Ehrenstein nicht nur die Tierquälerei und Grausamkeit Tieren gegenüber, sondern die Hierarchie einer Herrenmoral, die als psychologische Ursache für Kriege und soziale Ungerechtigkeiten des Menschen schlechthin verantwortlich ist. Die Erzählung als Kompensation der Schuldgefühle des einzelnen Ichs wird zur Anklage der Menschheit insgesamt. Er beklagt damit generell die als normal empfundenen allgemeinen gesellschaftlichen Konventionen einer Macht- und Herrenmenschengesellschaft, der man nur noch mit Nihilismus und Spott begegnen kann, um sie in Frage zu stellen. Er legt den Finger auf eine Wunde in uns selbst, die wir zum Beispiel das millionenhafte Schlachten von Tieren als selbstverständlich hinnehmen, anstatt dem Vegetarismus zumindest mehr Raum in unserer Ernährungsweise zuzugestehen.
Die Macht des Menschen ist gleichzeitig auch seine größte Gefahr.

Diese bemerkenswerte Erzählung hat mir Lust auf weitere in dem zweiten Band der ausgezeichneten Werkausgabe gemacht. Als nächstes picke ich mir noch ein paar tierische Titel zum Vergleich heraus. Da gibt es noch “Der Tod des Seebären” oder “die Heimkehr des Falken” und dann seine bekannteste: “Tubutsch”.

Die ersten dreißig Jahre des 20. Jahrhunderts scheinen eine literarisch sehr interessante und fruchtbare Periode gewesen zu sein, bis der Nationalsozialismus auch dem Schaffen Albert Ehrensteins und so vieler anderer Schriftsteller mit Bücherverbrennungen und entarteter Kunst ein mehr als schreckliches Ende bereitete. Ich werde mich weiter mit dieser “Epoche” beschäftigen, denn auch wir befinden uns in einer solchen, wenn auch hundert Jahre später.

Ehrenstein         Ehrenstein_Werkausgabe