Roberto Bolaño: Begegnung mit Enrique Lihn
für Celina Manzoni
Nachdem ich 1999 aus Venezuela zurückgekehrt war, träumte ich, in das Haus gebracht worden zu sein, in dem zu Lebzeiten Enrique Lihn wohnte, in einem Land, das gut Chile hätte sein können, in einer Stadt, die gut Santiago hätte sein können, in dem Bewusstsein, dass Chile und Santiago einst der Hölle ähnelten, und dass diese Ähnlichkeit in irgendeiner unterirdischen Schicht der realen Stadt und der eingebildeten Stadt für immer bestehen bliebe. Natürlich wusste ich, dass Lihn tot war, aber als man mich aufforderte, mitzukommen, um ihn kennenzulernen, hatte ich keinerlei Einwände. Vielleicht dachte ich an einen Scherz dieser Leute, die alle Chilenen waren und mit mir kamen, vielleicht an die Möglichkeit eines Wunders. Das Wahrscheinlichste aber ist, dass ich an nichts dachte oder dass ich die Einladung missverstand. Fest steht, dass wir zu einem siebenstöckigen Gebäude mit einer in einem blassen Gelb gestrichenen Fassade und einer Bar im Erdgeschoß kamen, eine Bar von nicht zu verachtenden Ausmaßen, mit einer langen Theke und etlichen Nischen, und meine Freunde (obwohl es mir komisch vorkommt, sie als solche zu bezeichnen, sagen wir besser: seine begeisterten Anhänger, die mich eingeladen hatten, den Dichter kennenzulernen) führten mich zu einer der Nischen, und dort befand sich Lihn. Am Anfang erkannte ich ihn kaum wieder, sein Gesicht war nicht das gleiche wie auf den Fotos seiner Bücher, er war schlanker und jünger, sah wesentlich besser aus und seine Augen glänzten viel heller, als die Schwarz-Weiß-Augen der Schutzumschläge. In Wirklichkeit sah Lihn nicht mehr wie Lihn aus, sondern glich einem Hollywood-Schauspieler, einem jener zweitrangigen Darsteller in B-Movies, die es nie schaffen, in Europa aufgeführt zu werden und sofort in den Umlauf der Videotheken gelangen. Aber gleichzeitig war er Lihn, und obwohl er ihm nicht ähnelte, hatte ich keinen Zweifel daran. Die begeisterten Anhänger grüßten und sprachen ihn duzend mit seinem Vornamen an, was irgendwie übertrieben und falsch klang. Sie fragten ihn Dinge, die ich nicht hören konnte, und dann stellten sie mich vor, obwohl die Wahrheit ist, dass ich nicht vorgestellt werden musste, denn für eine Zeit lang, eine kurze Zeit, korrespondierte ich mit ihm und seine Briefe hatten mir in gewisser Weise geholfen, weiter zu machen. Ich spreche über die Jahre 1981 oder 1982, als ich zurückgezogen in einem Haus bei Girona lebte, mit fast nichts an Geld, noch der Aussicht welches zu bekommen, und die Literatur war ein riesiges Minenfeld, auf dem alle meine Feinde waren, mit Ausnahme einiger Klassiker (aber nicht aller), und täglich musste ich dieses Minenfeld durchqueren, einzig durch die Gedichte Archilochos bestärkt, wo doch die kleinste falsche Bewegung Unheil bringen konnte. So ergeht es allen jungen Schriftstellern. Da kommt ein Zeitpunkt, an dem du dich auf niemanden stützen kannst, nicht einmal auf Freunde, noch weniger auf die anerkannten Autoren, niemand reicht dir die Hand. Publikationen, Preise, Stipendien erhalten die anderen, die ständig ihr „Jawohl, mein Herr“ wiederholt haben, oder jene, die voll des Lobes für die Literaturagenten waren, eine unendliche Horde, deren einzige Tugend es ist, das Leben als Polizeistaat zu begreifen, und dass ihnen niemand entkommt und niemandem vergeben wird. Nun ja, wie schon gesagt, es gibt keinen jungen Schriftsteller, der sich nicht so gefühlt hat an dem einen oder anderen Punkt seines Lebens. Aber damals war ich achtundzwanzig Jahre alt und unter keinen Umständen konnte ich mich als junger Schriftsteller betrachten. Ich war noch viel zu unbedarft. Ich war nicht der typische lateinamerikanische Schriftsteller, der in Europa dank der Mäzene (und des Patronats) eines Staates lebte. Niemand kannte mich und ich war weder gewillt aufzugeben, noch um Aufnahme zu ersuchen. Damals begann der Briefwechsel mit Enrique Lihn. Selbstverständlich schrieb ich ihm zuerst. Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ein langer und aus schlechter Laune heraus geschriebener Brief, wie man in Chile sagt, was heißen soll: mürrisch und jähzornig. In meiner Antwort sprach ich über mein Leben, über mein Haus auf dem Land, auf einem der Hügel außerhalb Gironas; vor meinem Haus die mittelalterliche Stadt und dahinter das Land und die Leere. Ich erzählte ihm auch von meiner Hündin, Laika, und dass die chilenische Literatur, mit zwei oder drei Ausnahmen, mir wie ein Haufen Scheiße erschiene. Seinem nächsten Brief konnte man entnehmen, dass wir bereits Freunde geworden waren. Daher lief es in der Folge auf das Typische heraus, was passiert, wenn ein angesehener Schriftsteller einen unbekannten zum Freund nimmt. Er las meine Gedichte und brachte einige davon in einer Art Lesung jüngerer Dichtung unter, die an einem chilenisch-nordamerikanischen Institut stattfand. In seinen Briefen sprach er über jene, von denen er annahm, sie würden die sechs Tiger der chilenischen Dichtung des Jahres 2000 bilden. Die sechs Tiger waren Bertoni, Maquieira, Gonzalo Muñoz, Martínez, Rodrigo Lira und ich. Glaube ich zumindest. Vielleicht waren es auch sieben Tiger. Nach meiner Meinung waren es nur sechs. Es dürfte schwer gewesen sein, diese Anzahl bis zum Jahr 2000 auch nur ein bisschen zu vergrößern, denn damals hatte Rodrigo Lira, der beste, den Freitod gewählt, und was über die Jahre von ihm übrig geblieben war, verrottete entweder auf irgendeinem Friedhof oder seine Asche verflog und vermischte sich weiter mit dem Straßendreck Santiagos. Man sollte lieber von Katzen sprechen als von Tigern. Bertoni, soweit ich weiß, war eine Art Hippie, der am Meeresufer wohnte, wo er Muscheln und Seetang auflas. Maquieira las die Anthologie der nordamerikanischen Dichtung von Cardenal und Coronel Urtecho mit großer Sorgfalt, um danach zwei Bücher herauszubringen und sich dem Trinken zuzuwenden. Gonzales Muñoz´ Spur verlor sich in Mexiko, wie man mir sagte, aber nicht im Alkoholdunst von Lowry´s Konsul, sondern als Manager in der Werbeindustrie. Martínez las „Duchamp du signe“[1] und dann starb er. Was Rodrigo Lira betrifft, nun gut, ich habe schon erzählt, was aus ihm wurde in dem Jahr als die Konferenz am chilenisch-nordamerikanischen Institut abgehalten wurde. Weniger Tiger als Katzen, egal von welcher Seite man es betrachtet. Kätzchen aus einer entlegenen Provinz. Was auch immer ich sagen wollte ist, dass ich Lihn schon kannte und dass ich ihm in keiner Weise vorgestellt werden musste. Nichtsdestotrotz stellten mich die begeisterten Anhänger weiter vor und weder Lihn noch ich unternahmen etwas dagegen. Da waren wir nun in einer der Tischnischen und einige Stimmen sagten das ist Roberto Bolaño und ich streckte die Hand aus, während mein Arm von der Dunkelheit der Nische umschlungen wurde und ich ergriff die Hand von Lihn, eine leicht kühle Hand, die meine für einige Sekunden drückte, die Hand eines traurigen Menschen, dachte ich damals, eine Hand und ein Händedruck, der perfekt mit dem Gesicht übereinstimmte, das mich in jenem Augenblick ansah, ohne mich wiederzuerkennen. Diese Übereinstimmung war gestisch und körperlich spürbar und zugleich der Anfang eines undurchsichtigen Geredes, das nichts zu sagen hatte oder das zumindest mir nichts zu sagen hatte. Kaum war dieser Augenblick überstanden, begannen die begeisterten Anhänger erneut zu sprechen und verdrängten damit ihr Schweigen: sie baten Lihn um seine Meinung zu den seltsamsten Dingen und dann löste sich meine Verachtung für jene begeisterten Anhänger mit einem Schlag in Luft auf, denn ich begriff, dass diese Gruppe so war, wie einst ich selbst: junge Schriftsteller mit keinerlei Unterstützung, Grünschnäbel[2], die für die neue Mitte-Links-Regierung Ausgestoßene waren und die nicht die geringste Unterstützung und Förderung genossen, die nur Lihn besaßen, ein Lihn, der andererseits nicht dem wahren Enrique Lihn entsprach, so wie er auf den Fotografien in seinen Büchern aussah, ein sehr viel besser aussehender, viel einnehmender Lihn, ein Lihn, der seinen Gedichten ähnelte, der das Alter seiner Gedichte angenommen hatte, der in einem Gebäude lebte, das seinen Gedichten glich, der mit der gleichen Eleganz und Bestimmtheit verschwinden konnte, wie ab und zu das Verschwinden in seinen Gedichten auftauchte. Als ich das rückblickend begriff, fühlte ich mich besser. Ich meine, ich konnte der Situation gefühlsmäßig etwas abgewinnen und begann über sie zu lächeln. Ich hatte nichts zu befürchten, ich war zuhause, mit Freunden und einem Schriftsteller, den ich immer bewundert hatte. Es war kein Horrorfilm. Oder es war nicht nur ein Horrorfilm, sondern er hatte eine ziemlich große Dosis an schwarzem Humor. Und gerade als ich an den schwarzen Humor dachte, zog Lihn eine kleine Flasche mit Tabletten aus einer Hosentasche. Ich muss aufpassen, alle drei Stunden eine zu nehmen, sagte er. Die begeisterten Anhänger verstummten ein weiteres Mal. Ein Ober brachte ein Glas Wasser. Die Tablette war groß. So erschien sie mir zumindest, als ich sie in das Glas Wasser fallen sah. Aber in Wirklichkeit war sie nicht groß. Sie war kompakt. Lihn fing an, sie mit einem Löffel aufzulösen, und ich nahm es so wahr, als gliche die Tablette einer Zwiebel mit ihren unzähligen Schichten. Ich brachte meinen Kopf näher an das Wasserglas heran und konzentrierte mich darauf. Für einen Augenblick befiel mich die Gewissheit, dass es sich um eine unendlich große Tablette handelte. Die Kristallkrümmung diente mir als Vergrößerungsglas: im Inneren wurde die blassrosa gefärbte Tablette zertrümmert, als wäre es der geeignete Augenblick für die Geburt einer Galaxis oder des Universums. Aber Galaxien entstehen oder sterben, was von beiden erinnere ich nicht, äußerst schnell, und die Erscheinung, die ich durch das Kristall des Wasserglases wahrnahm, erschien mir wie in Zeitlupe, jede unfassbare Phase breitete sich vor meinen Augen aus, jedes Schrumpfen, jedes Beben. Dann zog ich erschöpft meinen Kopf von der Medizin zurück und meine aufblickenden Augen begegneten den Augen Lihns, die zu sagen schienen: keine Kommentare, es ist bereits schlimm genug, dieses Gebräu alle drei Stunden schlucken zu müssen, keine Suche nach symbolischen Bedeutungen, das Wasser, die Zwiebel, der langsame Lauf der Sterne. Die begeisterten Anhänger hatten sich von unserem Tisch entfernt. Einige standen an der Theke, andere sah ich nicht. Aber dann schaute ich noch einmal zu Lihn herüber und ein begeisterter Anhänger stand bei ihm, der ihm etwas ins Ohr flüsterte, bevor er die Tischnische verlies, um sich unter seine in der Bar zerstreuten Freunden zu mischen. Und in diesem Augenblick vermutete ich, dass Lihn wusste, dass er tot war. Mein Herz hat aufgehört zu schlagen, sagte er. Mein Herz existiert nicht mehr. Hier stimmt etwas nicht, dachte ich. Lihn starb an Krebs, nicht an einem Herzanfall. Eine enorme Schwere lastete plötzlich auf mir. Also erhob ich mich, um mir die Füße zu vertreten, aber ich blieb nicht in der Bar, sondern gelangte auf die Straße. Die Bürgersteige waren grau und uneben und der Himmel erschien mir wie ein Spiegel ohne Quecksilberbelag, ein Ort, wo alles hätte spiegeln müssen, aber wo sich letzten Endes nichts mehr spiegelte. Trotzdem herrschte ein Gefühl der Normalität vor und bestimmte jedwede Vorstellung. Als ich glaubte, genug frische Luft geschnappt zu haben, und lieber in die Bar zurückkehren wollte, traf ich an einer der drei Zugangstreppen (Steintreppen, aus Blöcken geschlagen, von einer granitähnlichen Festigkeit, mit dem Glanz kostbaren Geschmeides) mit einem Typ zusammen, der viel kleiner war als ich und gekleidet wie ein Gangster der fünfziger Jahre, ein Typ, den ich für eine Karikatur hielt, ein typischer Schläger aber umgänglich, der mich mit einem seiner Bekannten verwechselte und mich grüßte, und ich erwiderte seinen Gruß, obwohl ich mir die ganze Zeit bewusst war, ihn nicht zu kennen und dass der Typ mich verwechselt hatte, aber ich benahm mich, als ob ich ihn kennen würde und ihn ebenfalls verwechselt hätte. So grüßten wir uns beide, während wir erfolglos die Steinstufen zu erklimmen versuchten, die zwar glänzten, aber ärmlichen Ursprungs waren. Seine Verwirrung aber dauerte nur wenige Sekunden und der Schläger merkte, dass er sich geirrt hatte, und dann sah er mich auf eine ganz andere Art an, als ob er sich selbst fragte, ob ich mich geirrt haben könnte oder ob ich ihn von vornherein auf den Arm genommen hätte, und weil er begriffsstutzig und misstrauisch war (obwohl paradoxerweise auch listig), fragte er mich, sich anscheinend erinnernd, wer ich sei, fragte es mit einem boshaften Lächeln auf den Lippen und ich sagte, Scheiße, Jara, ich bin es, Bolaño, und aufgrund seines Lächelns wäre es jedem klar gewesen, dass er nicht Jara war, aber er ließ sich auf das Spiel ein, als ob er nun plötzlich, vom Schlag des Blitzes getroffen (nein, ich zitiere keinen Vers aus Lihns Gedichten und noch weniger aus meinen eigenen) für einige Minuten akzeptierte, so zu leben, als ob er dieser unbekannte Jara sei, der er nie sein würde, außer dort, festgehalten auf den letzten drei schimmernden Stufen, und er fragte mich aus über mein Leben, fragte mich in seiner Borniertheit, wer ich sei, gab tatsächlich zu, Jara zu sein, aber ein Jara, der die Existenz Bolaños schlicht vergessen hatte, was andererseits auch nicht unwahrscheinlich war, also erklärte ich ihm, wer ich sei und gleichzeitig ihm, wer er sei, und was diesen letzten Punkt betrifft, erfand ich einen Jara, der sowohl mir als auch ihm maßgeschneidert entsprach, was heißen soll, dass er diesem Augenblick angemessen entsprach, ein unglaubwürdiger, intelligenter, mutiger, verwegener, reicher, großzügiger Jara, ein Jara, der eine wunderschöne Frau liebte und sie ihn, und dann lächelte dieser Gangstertyp, von Mal zu Mal mehr innerlich überzeugt davon, dass ich ihm einen schlechten Scherz auftischte, aber unfähig, einen Schlussstrich unter diese Episode zu ziehen und ging dazu über, sich so zu verhalten, als hätte er eine Lektion erteilt bekommen, als ob er sich sofort in das Bild verliebt hätte, das ich ihm geliefert hatte und animierte mich nicht nur weiter von Jara zu erzählen, sondern auch von den Freunden Jaras und schließlich von der ganzen Welt, die für alle einschließlich Jara viel zu groß geworden war, eine Welt, in der selbst dieser famose Jara eine Ameise gewesen wäre, deren Tod auf einer glänzenden Treppe für niemanden und nichts von Bedeutung war, und dann erschienen schließlich seine Freunde, zwei noch größere Schläger in ausgeblichenen, zweireihigen Anzügen, die mich ansahen und dann den falschen Jara ansahen, als ob sie ihn fragen wollten, wer ich sei und ihm blieb nichts anderes übrig, als zu sagen, das ist Bolaño, und die zwei Schläger begrüßten mich; ich schüttelte ihre Hände voller Ringe, teuren Uhren, goldenen Armbändern, und als sie mich einluden, etwas mit ihnen zu trinken, sagte ich ihnen, ich kann nicht, ich bin mit einem Freund hier, drängte mich dann an Jara vorbei und verschwand ins Innere der Bar. Lihn saß immer noch an seinem Platz. Aber jetzt befand sich kein einziger begeisterter Anhänger mehr in seiner Umgebung. Das Glas war leer. Er hatte seine Medizin genommen und wartete. Ohne ein Wort zu sagen, gingen wir auf sein Zimmer. Er wohnte im siebten Stock und wir nahmen den Fahrstuhl, ein riesiger Fahrstuhl, in den man gut mehr als dreißig Leute hätte hineinpacken können. Sein Zimmer dagegen war ziemlich klein, vor allem wenn man an das ganze Material chilenischer Schriftsteller denkt, deren Räume für gewöhnlich nicht groß genug sein können, aber er hatte nicht einmal Bücher. Auf meine Nachfrage antwortete er, dass sie unnötig wären, weil er fast nichts mehr lesen würde und fügte hinzu: aber Bücher habe ich immer. Von seinem Zimmer aus konnte man die Bar sehen. Als ob der Boden aus Glas bestehen würde. Ich kniete mich eine Zeit lang hin und widmete mich der Betrachtung der Leute dort unten, hielt nach den begeisterten Anhängern und den drei Gangstern Ausschau, aber ich sah nur Unbekannte, die aßen und tranken, sich hauptsächlich von einem Tisch und von einer Nische zur anderen bewegten oder von einem Punkt der Bar zum anderen, und die alle von einer hektischen Aufgeregtheit erfasst waren, als würde man in einem der Romane aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts lesen. Nachdem ich eine Weile in meinen Betrachtungen versunken war, kam ich zu dem Schluss, dass irgendetwas faul war. Wenn der Boden von Lihns Zimmer aus Glas wäre und die Decke der Bar wäre es auch, was war dann mit den Stockwerken vom zweiten bis zum sechsten Stock passiert? Waren sie auch aus Glas? Dann richtete ich meinen Blick wieder nach unten und begriff, dass es zwischen dem zweiten und dem sechsten Stockwerk nur Leere gab. Diese Entdeckung machte mir Angst. Wir sind am Arsch, Lihn, wo hast du mich hingebracht, dachte ich, obwohl ich dann dachte, verdammt noch mal, Lihn, wo haben sie dich hingebracht. Behutsam richtete ich mich wieder auf, denn ich wusste, dass an einem Ort wie diesem die Dinge noch vergänglicher waren als die Menschen, ganz im Gegenteil zu dem, was normalerweise der Fall war, und ich hielt weiter Ausschau nach Lihn – der sich nicht mehr an meiner Seite befand – und suchte in den diversen Zimmern der Wohnung, die mir nun gar nicht mehr klein vorkamen, sondern mehr wie das große, maßlose Haus eines europäischen Schriftstellers, wie das Haus eines chilenischen Schriftstellers oder eines Schriftstellers der Dritten Welt, mit billigen Bediensteten und wertvollen, zerbrechlichen Gegenständen, ein von beweglichen Schatten durchflutetes Haus, mit halbdunklen Räumen, in denen ich zwei Bücher fand, das eine klassisch wie ein glatter Stein, das andere modern und zeitlos wie aus Scheiße, und je länger ich nach Lihn suchte, desto kälter wurde mir auch, desto wütender und kälter wurde ich; ich fühlte mich krank, als ob die Wohnung sich um eine imaginäre Achse drehen würde, bis dass sich eine Tür öffnete und ich einen Pool sah, in dem Lihn schwamm, und dann, bevor ich meinen Mund aufmachen konnte um etwas über diese Verwandlung zu sagen, beschwor Lihn, dass das Schlechte an seiner Medizin wäre, der Medizin, die er zum Überleben einnahm, dass sie ihn in gewisser Weise zu einem Versuchskaninchen der Pharmaindustrie mache, Worte, die ich in dieser Form zu hören erwartet hatte, als ob das Ganze ein Theaterstück wäre und ich mich schlagartig an meine Sätze erinnert hätte und an die Sätze derer, denen ich eine Antwort schuldete, und dann kam Lihn aus dem Schwimmbecken und wir fuhren in das Erdgeschoß hinunter und bahnten uns einen Weg durch die Menge in der Bar, und Lihn sagte, dass die Tiger erledigt seien, und: es war schön, solange es dauerte, und: du wirst es nicht glauben, Bolaño, also pass auf, in diesem Stadtteil gehen nur die Toten spazieren. Mittlerweile hatten wir zwei die Bar durchquert und standen an ein Fenster gelehnt mit dem Blick auf die Straßen und Fassaden dieses so eigenartigen Stadtteils, wo nur die Toten spazieren gingen. Und wir schauten und schauten und die Fassaden waren ohne jeden Zweifel die Fassaden einer anderen Zeit, genauso wie die an den Bürgersteigen abgestellten Wagen einer anderen Zeit angehörten, einer lautlosen und dennoch beweglichen Zeit, (Lihn sah, wie sie sich bewegte), eine schreckliche Zeit, die aus keinem anderen Grund andauerte, als aus reiner Trägheit.
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(nichtkommerzielle Übersetzung für den Privatgebrauch von Dietmar Hillebrandt der Erzählung „Encuentro con Enrique Lihn“ von Roberto Bolaño, mithilfe der spanischen Erzählsammlung „Putas asesinas“, © Editorial Anagrama 2001 und der englischen Übersetzung von Chris Andrews in „The Return“, © New Directions Publ. Corp. 2010)
[1] Im Original: „Duchamp des cygnes“, ob bewusste Anspielung auf die französischen „Schwäne“ oder lediglich eine unklare Erinnerung an den Wortlaut des Buchtitels ist unklar.
Danke für Ihre Mühe! Da freue ich mich jetzt drauf, diese Erzählung zu lesen.
Tatsächlich, ich muss es sagen – obwohl mir „2666“ insgesamt gut gefiel -, habe ich „Gomez Palacio“ immer noch im Kopf: da ist etwas schwer Fassbares hängen geblieben! Womöglich eben darum.
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Bei „2666“ der seltsame Effekt, dass ausgerechnet der letzte Teil mir der schwächste schien. Sicher gut erfunden und in seinen Grundzügen auch überzeugend (und in etlichen Details), war er aber doch irgendwie … zumindest nicht von der Qualität der anderen Teile (für mich: aller vier). War das der von B. auch zuletzt geschriebene Teil? Seltsam, einen derartigen Roman derart lange mit derart großer innerer Beteiligung zu lesen, und dann einen derartigen „die Luft ist raus“-Effekt zu verspüren. – Na ja, auch eine singuläre Erfahrung.
Seit Sonntagabend in einem Rutsch durchgelesen die „Naziliteratur“ – unterhaltsam und originell: Man lernt eine ganze Kulturepoche kennen, auch oder gerade weil sie so gut erfunden und komprimiert wurde. Danach geht’s an „Die wilden Detektive“.
Ich bin jetzt aber weiterhin sehr neugierig auf die ausstehenden Erzählungen. Auch die „Telefongespräche“, mein erster Bolano, habe ich noch gut in Erinnerung. (Mir haben aber auch die Kurzromane gut gefallen, vor allem „Chilenisches Nachtstück“.)
Jetzt frage ich mich, womit das zu tun hat? Mit meiner eigenen Vorliebe für die kürzere Strecke? Ich sehe aber natürlich trotzdem in B. auch eine ganz andere Potenz für Romane als bei den meisten, die sich halt einen abquälen.
Also noch mal: danke für Ihre Arbeit. Werde mir jedes Detail genau ansehen und ihm nachzuspüren versuchen…
Sie sind ja doch schon sehr weit gediehen mit Ihrer Bolaño-Lektüre, haben mich sogar mit der „Naziliteratur“ schon überrundet. Aus dem Alter des Wettlesens sind wir beide aber sicher glücklicherweise heraus. Das betreibt man nur noch beklagenswerterweise in Klagenfurt. Das Unfassbare scheint mir ein durchaus zutreffender Terminus für das Zentrum der Romane und der Erzählungen Bolaños zu sein, und besser als das immer postulierte letzte Geheimnis, das die Bolañisten in seinem Werk dann zu dechiffrieren versuchen. Vielleicht besteht das vermutete Geheimnis seiner Texte einfach darin, dieses Unfassbare nie präzise und detailiert zu beschreiben, sondern dem Text durch Andeutungen, Auslassungen diese Aura des Geheimnisvollen als stimmungsvolle, poetische Essenz mitzugeben. Man zeigt nicht mit dem Zeigefinger auf ein Geheimnis, genauso wenig wie auf einen nackten Menschen und die Ästhetik der Verhüllung ist immer interessanter als die des platten Exibitionismus.
Die Übersetzung war für mich nicht ganz leicht, deshalb Danke für das Wort Mühe ohne es geringschätzig aufzuwiegen. Wenn man sich in drei Sprachen gleichzeitig bewegt, bekommt man etwas von ihren unterschiedlichen Mentalitäten mit. Dem vokalhaften, manchmal prägnant und dann wieder ausschweifenden spanischen Wendungen steht das dichte, kurze, aber leichte Englisch gegenüber und die Grammatik der deutschen Schachtelsätze ist oft ein unzulängliches Gefäß für beide. Wir Deutschen brauchen anscheinend zuviel Worte, um einen einfachen Sachverhalt auszudrücken. Erschwert wurde die Aufgabe auch dadurch, dass man sich in einem Traum, einer Art innerem Monolog bewegt, der sich manchmal eruptiv nach außen stülpt. Stakkatohafte Sequenzen wechseln mit nicht endenwollenden Reihungen und das Deutsche möchte irgendwann einen Punkt machen und zu einem neuen Anfang kommen(.)(,) aber der Sprachfluß der Erzählung hört nie auf und er darf auch nicht durch Absätze leichter verdaulich gemacht werden. Es ist, als ob uns jemand seinen Traum spontan vor die Füße schmeißt, aber das sieht vermutlich nur so aus, denn in Wahrheit literarisiert Bolaño seinen Text dauernd und hat ihn gewiss mehrfach überarbeitet. Das Durchgearbeitete spontan wirken zu lassen, ist eine hohe Kunst, die man nicht oft erreicht.
Ich texte sie voll, was nicht meine Absicht ist. Um noch mal von „2666“ zu sprechen, konnte ich damals diesen Abfall, den sie im fünften Kapitel verspürt haben, nicht nachvollziehen. Jeder Teil könnte ohnehin ein von den anderen unabhängiger sein. Vielleicht erwartet man am Ende aber auch eine nochmalige Steigerung und die hätte es vermutlich nur gegeben, wenn Bolaño während der letzten Arbeiten am Text nicht gestorben wäre.
Also Sie lesen jetzt noch die Erzählungen im „unerträglichen Gaucho“ und ich wende mich nach der Lektüre des Gasdanowschen Phantoms endlich mal den fiktiven Nazibiographien zu. Vielleicht wachsen mir ja diese fiktiven Schriftsteller ans Herz, damit habe ich umfassende Erfahrung, fällt mir nur gerade so ein.
Herzlichen Dank für Ihr Feedback und liebe Grüße
Der Buecherblogger
Für mich sieht es mittlerweile so aus, dass B. in einem durchaus eingängigen Ton immer wieder sanfte Ungeheuerlichkeiten streift (ich meine nicht die Morde), dunkle Felder zwischen den Personen, mögliche Verwirbelungen mit etwas aus den Orten und Umständen selbst drohenden Kräften. (Dafür gibt’s nämlich häufig genug und also wohl auch wichtig zu nehmende Beschreibungen. Und angesammelte Spannungen zwischen Personen und jenen Kräften im Außen – Wüste, Wetter, Natur – scheinen oft kurz vor ihrer Wechselwirkung.)
Wobei mir aber auch nicht immer ganz klar ist, was verhüllt wird. Ich denke, es ist eher so, dass ein Möglichkeitsraum auf den Leser übertragen wird.
Bei den Sprachen bin ich etwas anderer Ansicht als Sie. Im Englischen geht für mein Gefühl dauernd eben in der Leichtgängigkeit was verloren – das Englische ist flexibel und fix, aber es ist auch oberflächlich. Und Shakespearsche Qualitäten – schon oft vom Vokabular her – sind da doch eher selten. Man denke aber auch an die Kontroverse um Murakami (Gefährliche Geliebte / Südlich der Grenze) – zwar konnte ich nie gut genug Japanisch lesen (das von der Grammatik her leicht ist, aber ein Kosmos an mitzulesenden Nebentönen), habe aber immer gewusst, dass mit der ersten Übersetzung etwas nicht stimmt. Das Englische scheint so eine Tendenz zu haben, aus allem Entertainment zu machen.
Umso wichtiger eine durchaus ihre Skrupel bewusst haltende Übersetzung!
Spanisch habe ich oft gehört, aber habe keinen Zugang dazu (etwa wie zum Italienischen, das mir nahe ist). Ich vermute aber, da Sie jemand mit einerseits Skrupel und andererseits Anklangsempfänglichkeiten sind, ziehen Sie aus diesem Bermudadreieck an Sprachen auch etwas heraus – und von daher wird die Anstrengung letztlich im Ergebnis betont. Bei Lihn jetzt meine ich zu spüren, dass Ihnen etwa auch das Eruptive ganz gut geglückt ist. Irgendwelche Winzigkeiten an Kritik zähle ich Ihnen dann gar nicht erst auf.
Zwar habe ich mir also bisher Bolano auch nur mal im Englischen angesehen, meine aber, dass das Deutsche für ihn, für seine Art, die Dinge „langwelliger“ zu verketten, viel näher liegt. Vielleicht nicht umsonst kennt er sich so gut aus – Arno Schmidt etwa ist im Angelsächsischen sicher nichts Alltägliches – und wird sich auch Einiges über seine Anklangsnerven aufgesogen haben.
Was ich meine, ist: Ermutigung! Zu übersetzen bleibt ja immer was …
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Die „Nazi-Literatur“ ist wirklich vergnüglich! (Ich musste auch ein paarmal an Borges denken mit seinen erfundenen Fauna- und Fabelwesen und anderen Seltsamkeiten – und Cortazar war in solcherart Erfindungslust ja auch sehr gut.)
Aber zuletzt auch noch mal zu 2666. Nein, ich erwartete in Teil fünf keine nochmalige Steigerung. Ich merkte aber, dass tatsächlich der eindringlich und „intim“ gewordene Bereich des Fremden (allein die spanischen Namen und Bezeichnungen bilden eben einen sprachlich wirkenden Raum) und dann das brave Nachkriegsdeutschland für mich – nach der langen Strecke – nicht mehr zusammengingen. Oder eben: Die Textsorten ergänzten einander nicht. Das Geheimnis wäre mit dem Ende des vierten Teils womöglich noch größer gewesen? Oder eben noch mal andersrum: Die quasi-realistische Nacherzählung des Lebens des so lange fiktiven Archimboldis tat für mich zur ausreichend überzeugenden Wirkung der suggestiveren Erzählung bislang nichts Entscheidendes mehr hinzu.
Das letzte Bedrohliche im Wechselspiel von Kräften und Personen ist bei Bolaño selbstverständlich der Tod selbst. Es ist so, als führe er in den Texten immer unsichtbar mit. So auch, erinnere ich mich gerade, in einem Kapitel aus „Die wilden Detektive„, wo ein Freund einen Autounfall erleidet. Man unterhält sich über das Leben und plötzlich ist da nur noch der Verlust. Er hat vielen seiner Freunde, wie hier Enrique Lihn, eine posthume Würdigung zukommen lassen und der natürliche Ausdruck dafür ist für ihn wiederum die Literatur selbst.
Was die „Oberflächlichkeit“ des Englischen betrifft, sind wir gar nicht unterschiedlicher Meinung. Ganze Nebensätze und kurze Einschübe wurden bei dieser Erzählung auch zugunsten der Kompaktheit weggelassen. Ich glaube der englische Text dürfte vom Platzbedarf her mindestens eine Seite kürzer sein als der spanische. Das Englische diente mir logischerweise zum groben Verständnis. Ich hätte jedoch nie nur das Englische ohne den spanischen Originaltext übersetzt. Der ist auch was den Klang betrifft, Alliterationen und sorgfältig nachgespürte Reihungen von Vokalen, vermutlich lautlich so gar nicht zu übersetzen. Schade, dass ich den dokumentarisch-biographischen Band „Exil im Niemandsland“ nicht mehr griffbereit habe, denn ich hatte ihn mir 2009 nur aus einer Bibliothek ausgeliehen. Es steht nämlich, meine ich mich zu erinnern, auch ein kurzer Text von Bolaño selbst zum Übersetzen darin, neben Interviews, Preisreden, Essays und auch sehr kurzen weiteren Prosatexten. Eigentlich bereue ich es, ihn damals nicht gekauft zu haben, aber das ließe sich ja noch nachholen.
Um auch noch einmal auf den „Teil von Archimboldi“ zurückzukommen: ich kann ihre Ernüchterung gut nachvollziehen, denn dieser letzte Teil macht ja einen großen räumlichen und zeitlichen Sprung (vom Lateinamerika am Ende des 20. Jahrhunderts, in das Europa des 2. Weltkrieges) und er erzählt streckenweise auch durchaus konventionell von der Biographie Archimboldis. Die anderen Teile wirken experimenteller auch von der Form her, aber ich kann dies nicht so negativ sehen, denn entweder ist es doch ein spätes Zugeständnis was die Verkäuflichkeit betrifft oder es liegt am Fragmentarischen. Wirklich fertig ist der Roman, ähnlich wie Musils „Mann ohne Eigenschaften“ eben nicht geworden. Gerade lese ich nocheinmal den eigentlich banalen Schluß mit dem Pücklereis, wo sich ein schwarzer Mantel über einige „barrios“ von Hamburg breitet. Wenn der alte Herr die Bemerkung macht „Ein äußerst rätselhaftes Vermächtnis, …„, ist das natürlich eine Bemerkung zum eigenen Werk Bolaños und wir Leser greifen diese Anspielung allzu bereitwillig auf. Am Ende auf das Werk selbst zu verweisen, scheint mir ein alter Schriftstellertrick, ich erinnere gerade Proust und Aitmatov´s „Dshamilja„.
Der Sprung über den Ozean und in der Zeit war für Bolaño kein wirklich großer, denn die lateinamerikanischen Diktaturen und der Faschismus haben die Menschenverachtung gemeinsam und die Morde an den vielen mexikanischen, jungen Frauen finden ihr Pendant in den Vergewaltigten des Krieges. Sicher liest ein deutscher Leser den letzten Teil auch anders, uns wirkt da Vieles zu vertraut. Aber wie er diesem fiktiven Hans Reiter eine Schriftstellerbiographie plausibel bis ins Kleinste verpasst und die Genese zu einem solchen mit der Beschreibung des deutschen Verlagswesens verknüpft, von den expliziten Kriegsgreuelszenen einmal abgesehen, hat mich damals doch beeindruckt. Aber ich kann Ihnen ja schlecht vorwerfen, zu kritisch zu sein und das läge mir auch fern. Was die kritischen „Winzigkeiten“ meiner Übersetzung allerdings betrifft, sind mir Hinweise immer willkommen. Ich betrachte meinen Übersetzungsversuch nicht als sakrosankt und er hat bestimmt auch Fehler.
Leider muss ich in absehbarer Zeit mal wieder einen kleinen Krankenhausaufenthalt einschieben und ich stelle mir jetzt schon vor, wie ich mit der „Naziliteratur“ in der Hand und diesem prangenden Titel für einen Rechtradikalen gehalten werde. Dem Genuss der Lektüre wird das aber hoffentlich keinen Abruch tun.
Ich grüße Sie und wünsche uns beiden noch viele Entdeckungen im Werk Bolaños
Der Buecherblogger
Ein Nachtrag, die „barrios“ betreffend:
Die Stadtteile Hamburgs, über die sich auf der letzten Seite von „2666“ ein Schatten ausbreitet, tauchen als Stadtteile von Santiago de Chile, in der nur die Toten spazierengehen, schon in dieser Erzählung „Encuentro con Enrique Lihn“ auf. Der Schatten als Metapher des Todes.