Roberto Bolaño: Begegnung mit Enrique Lihn

für Celina Manzoni
Nachdem ich 1999 aus Venezuela zurückgekehrt war, träumte ich, in das Haus gebracht worden zu sein, in dem zu Lebzeiten Enrique Lihn wohnte, in einem Land, das gut Chile hätte sein können, in einer Stadt, die gut Santiago hätte sein können, in dem Bewusstsein, dass Chile und Santiago einst der Hölle ähnelten, und dass diese Ähnlichkeit in irgendeiner unterirdischen Schicht der realen Stadt und der eingebildeten Stadt für immer bestehen bliebe. Natürlich wusste ich, dass Lihn tot war, aber als man mich aufforderte, mitzukommen, um ihn kennenzulernen, hatte ich keinerlei Einwände. Vielleicht dachte ich an einen Scherz dieser Leute, die alle Chilenen waren und mit mir kamen, vielleicht an die Möglichkeit eines Wunders. Das Wahrscheinlichste aber ist, dass ich an nichts dachte oder dass ich die Einladung missverstand. Fest steht, dass wir zu einem siebenstöckigen Gebäude mit einer in einem blassen Gelb gestrichenen Fassade und einer Bar im Erdgeschoß kamen, eine Bar von nicht zu verachtenden Ausmaßen, mit einer langen Theke und etlichen Nischen, und meine Freunde (obwohl es mir komisch vorkommt, sie als solche zu bezeichnen, sagen wir besser: seine begeisterten Anhänger, die mich eingeladen hatten, den Dichter kennenzulernen) führten mich zu einer der Nischen, und dort befand sich Lihn. Am Anfang erkannte ich ihn kaum wieder, sein Gesicht war nicht das gleiche wie auf den Fotos seiner Bücher, er war schlanker und jünger, sah wesentlich besser aus und seine Augen glänzten viel heller, als die Schwarz-Weiß-Augen der Schutzumschläge. In Wirklichkeit sah Lihn nicht mehr wie Lihn aus, sondern glich einem Hollywood-Schauspieler, einem jener zweitrangigen Darsteller in B-Movies, die es nie schaffen, in Europa aufgeführt zu werden und sofort in den Umlauf der Videotheken gelangen. Aber gleichzeitig war er Lihn, und obwohl er ihm nicht ähnelte, hatte ich keinen Zweifel daran. Die begeisterten Anhänger grüßten und sprachen ihn duzend mit seinem Vornamen an, was irgendwie übertrieben und falsch klang. Sie fragten ihn Dinge, die ich nicht hören konnte, und dann stellten sie mich vor, obwohl die Wahrheit ist, dass ich nicht vorgestellt werden musste, denn für eine Zeit lang, eine kurze Zeit, korrespondierte ich mit ihm und seine Briefe hatten mir in gewisser Weise geholfen, weiter zu machen. Ich spreche über die Jahre 1981 oder 1982, als ich zurückgezogen in einem Haus bei Girona lebte, mit fast nichts an Geld, noch der Aussicht welches zu bekommen, und die Literatur war ein riesiges Minenfeld, auf dem alle meine Feinde waren, mit Ausnahme einiger Klassiker (aber nicht aller), und täglich musste ich dieses Minenfeld durchqueren, einzig durch die Gedichte Archilochos bestärkt, wo doch die kleinste falsche Bewegung Unheil bringen konnte. So ergeht es allen jungen Schriftstellern. Da kommt ein Zeitpunkt, an dem du dich auf niemanden stützen kannst, nicht einmal auf Freunde, noch weniger auf die anerkannten Autoren, niemand reicht dir die Hand. Publikationen, Preise, Stipendien erhalten die anderen, die ständig ihr „Jawohl, mein Herr“ wiederholt haben, oder jene, die voll des Lobes für die Literaturagenten waren, eine unendliche Horde, deren einzige Tugend es ist, das Leben als Polizeistaat zu begreifen, und dass ihnen niemand entkommt und niemandem vergeben wird. Nun ja, wie schon gesagt, es gibt keinen jungen Schriftsteller, der sich nicht so gefühlt hat an dem einen oder anderen Punkt seines Lebens. Aber damals war ich achtundzwanzig Jahre alt und unter keinen Umständen konnte ich mich als junger Schriftsteller betrachten. Ich war noch viel zu unbedarft. Ich war nicht der typische lateinamerikanische Schriftsteller, der in Europa dank der Mäzene (und des Patronats) eines Staates lebte. Niemand kannte mich und ich war weder gewillt aufzugeben, noch um Aufnahme zu ersuchen. Damals begann der Briefwechsel mit Enrique Lihn. Selbstverständlich schrieb ich ihm zuerst. Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ein langer und aus schlechter Laune heraus geschriebener Brief, wie man in Chile sagt, was heißen soll: mürrisch und jähzornig. In meiner Antwort sprach ich über mein Leben, über mein Haus auf dem Land, auf einem der Hügel außerhalb Gironas; vor meinem Haus die mittelalterliche Stadt und dahinter das Land und die Leere. Ich erzählte ihm auch von meiner Hündin, Laika, und dass die chilenische Literatur, mit zwei oder drei Ausnahmen, mir wie ein Haufen Scheiße erschiene. Seinem nächsten Brief konnte man entnehmen, dass wir bereits Freunde geworden waren. Daher lief es in der Folge auf das Typische heraus, was passiert, wenn ein angesehener Schriftsteller einen unbekannten zum Freund nimmt. Er las meine Gedichte und brachte einige davon in einer Art Lesung jüngerer Dichtung unter, die an einem chilenisch-nordamerikanischen Institut stattfand. In seinen Briefen sprach er über jene, von denen er annahm, sie würden die sechs Tiger der chilenischen Dichtung des Jahres 2000 bilden. Die sechs Tiger waren Bertoni, Maquieira, Gonzalo Muñoz, Martínez, Rodrigo Lira und ich. Glaube ich zumindest. Vielleicht waren es auch sieben Tiger. Nach meiner Meinung waren es nur sechs. Es dürfte schwer gewesen sein, diese Anzahl bis zum Jahr 2000 auch nur ein bisschen zu vergrößern, denn damals hatte Rodrigo Lira, der beste, den Freitod gewählt, und was über die Jahre von ihm übrig geblieben war, verrottete entweder auf irgendeinem Friedhof oder seine Asche verflog und vermischte sich weiter mit dem Straßendreck Santiagos. Man sollte lieber von Katzen sprechen als von Tigern. Bertoni, soweit ich weiß, war eine Art Hippie, der am Meeresufer wohnte, wo er Muscheln und Seetang auflas. Maquieira las die Anthologie der nordamerikanischen Dichtung von Cardenal und Coronel Urtecho mit großer Sorgfalt, um danach zwei Bücher herauszubringen und sich dem Trinken zuzuwenden. Gonzales Muñoz´ Spur verlor sich in Mexiko, wie man mir sagte, aber nicht im Alkoholdunst von Lowry´s Konsul, sondern als Manager in der Werbeindustrie. Martínez las „Duchamp du signe“[1] und dann starb er. Was Rodrigo Lira betrifft, nun gut, ich habe schon erzählt, was aus ihm wurde in dem Jahr als die Konferenz am chilenisch-nordamerikanischen Institut abgehalten wurde. Weniger Tiger als Katzen, egal von welcher Seite man es betrachtet. Kätzchen aus einer entlegenen Provinz. Was auch immer ich sagen wollte ist, dass ich Lihn schon kannte und dass ich ihm in keiner Weise vorgestellt werden musste. Nichtsdestotrotz stellten mich die begeisterten Anhänger weiter vor und weder Lihn noch ich unternahmen etwas dagegen. Da waren wir nun in einer der Tischnischen und einige Stimmen sagten das ist Roberto Bolaño und ich streckte die Hand aus, während mein Arm von der Dunkelheit der Nische umschlungen wurde und ich ergriff die Hand von Lihn, eine leicht kühle Hand, die meine für einige Sekunden drückte, die Hand eines traurigen Menschen, dachte ich damals, eine Hand und ein Händedruck, der perfekt mit dem Gesicht übereinstimmte, das mich in jenem Augenblick ansah, ohne mich wiederzuerkennen. Diese Übereinstimmung war gestisch und körperlich spürbar und zugleich der Anfang eines undurchsichtigen Geredes, das nichts zu sagen hatte oder das zumindest mir nichts zu sagen hatte. Kaum war dieser Augenblick überstanden, begannen die begeisterten Anhänger erneut zu sprechen und verdrängten damit ihr Schweigen: sie baten Lihn um seine Meinung zu den seltsamsten Dingen und dann löste sich meine Verachtung für jene begeisterten Anhänger mit einem Schlag in Luft auf, denn ich begriff, dass diese Gruppe so war, wie einst ich selbst: junge Schriftsteller mit keinerlei Unterstützung, Grünschnäbel[2], die für die neue Mitte-Links-Regierung Ausgestoßene waren und die nicht die geringste Unterstützung und Förderung genossen, die nur Lihn besaßen, ein Lihn, der andererseits nicht dem wahren Enrique Lihn entsprach, so wie er auf den Fotografien in seinen Büchern aussah, ein sehr viel besser aussehender, viel einnehmender Lihn, ein Lihn, der seinen Gedichten ähnelte, der das Alter seiner Gedichte angenommen hatte, der in einem Gebäude lebte, das seinen Gedichten glich, der mit der gleichen Eleganz und Bestimmtheit verschwinden konnte, wie ab und zu das Verschwinden in seinen Gedichten auftauchte. Als ich das rückblickend begriff, fühlte ich mich besser. Ich meine, ich konnte der Situation gefühlsmäßig etwas abgewinnen und begann über sie zu lächeln. Ich hatte nichts zu befürchten, ich war zuhause, mit Freunden und einem Schriftsteller, den ich immer bewundert hatte. Es war kein Horrorfilm. Oder es war nicht nur ein Horrorfilm, sondern er hatte eine ziemlich große Dosis an schwarzem Humor. Und gerade als ich an den schwarzen Humor dachte, zog Lihn eine kleine Flasche mit Tabletten aus einer Hosentasche. Ich muss aufpassen, alle drei Stunden eine zu nehmen, sagte er. Die begeisterten Anhänger verstummten ein weiteres Mal. Ein Ober brachte ein Glas Wasser. Die Tablette war groß. So erschien sie mir zumindest, als ich sie in das Glas Wasser fallen sah. Aber in Wirklichkeit war sie nicht groß. Sie war kompakt. Lihn fing an, sie mit einem Löffel aufzulösen, und ich nahm es so wahr, als gliche die Tablette einer Zwiebel mit ihren unzähligen Schichten. Ich brachte meinen Kopf näher an das Wasserglas heran und konzentrierte mich darauf. Für einen Augenblick befiel mich die Gewissheit, dass es sich um eine unendlich große Tablette handelte. Die Kristallkrümmung diente mir als Vergrößerungsglas: im Inneren wurde die blassrosa gefärbte Tablette zertrümmert, als wäre es der geeignete Augenblick für die Geburt einer Galaxis oder des Universums. Aber Galaxien entstehen oder sterben, was von beiden erinnere ich nicht, äußerst schnell, und die Erscheinung, die ich durch das Kristall des Wasserglases wahrnahm, erschien mir wie in Zeitlupe, jede unfassbare Phase breitete sich vor meinen Augen aus, jedes Schrumpfen, jedes Beben. Dann zog ich erschöpft meinen Kopf von der Medizin zurück und meine aufblickenden Augen begegneten den Augen Lihns, die zu sagen schienen: keine Kommentare, es ist bereits schlimm genug, dieses Gebräu alle drei Stunden schlucken zu müssen, keine Suche nach symbolischen Bedeutungen, das Wasser, die Zwiebel, der langsame Lauf der Sterne. Die begeisterten Anhänger hatten sich von unserem Tisch entfernt. Einige standen an der Theke, andere sah ich nicht. Aber dann schaute ich noch einmal zu Lihn herüber und ein begeisterter Anhänger stand bei ihm, der ihm etwas ins Ohr flüsterte, bevor er die Tischnische verlies, um sich unter seine in der Bar zerstreuten Freunden zu mischen. Und in diesem Augenblick vermutete ich, dass Lihn wusste, dass er tot war. Mein Herz hat aufgehört zu schlagen, sagte er. Mein Herz existiert nicht mehr. Hier stimmt etwas nicht, dachte ich. Lihn starb an Krebs, nicht an einem Herzanfall. Eine enorme Schwere lastete plötzlich auf mir. Also erhob ich mich, um mir die Füße zu vertreten, aber ich blieb nicht in der Bar, sondern gelangte auf die Straße. Die Bürgersteige waren grau und uneben und der Himmel erschien mir wie ein Spiegel ohne Quecksilberbelag, ein Ort, wo alles hätte spiegeln müssen, aber wo sich letzten Endes nichts mehr spiegelte. Trotzdem herrschte ein Gefühl der Normalität vor und bestimmte jedwede Vorstellung. Als ich glaubte, genug frische Luft geschnappt zu haben, und lieber in die Bar zurückkehren wollte, traf ich an einer der drei Zugangstreppen (Steintreppen, aus Blöcken geschlagen, von einer granitähnlichen Festigkeit, mit dem Glanz kostbaren Geschmeides) mit einem Typ zusammen, der viel kleiner war als ich und gekleidet wie ein Gangster der fünfziger Jahre, ein Typ, den ich für eine Karikatur hielt, ein typischer Schläger aber umgänglich, der mich mit einem seiner Bekannten verwechselte und mich grüßte, und ich erwiderte seinen Gruß, obwohl ich mir die ganze Zeit bewusst war, ihn nicht zu kennen und dass der Typ mich verwechselt hatte, aber ich benahm mich, als ob ich ihn kennen würde und ihn ebenfalls verwechselt hätte. So grüßten wir uns beide, während wir erfolglos die Steinstufen zu erklimmen versuchten, die zwar glänzten, aber ärmlichen Ursprungs waren. Seine Verwirrung aber dauerte nur wenige Sekunden und der Schläger merkte, dass er sich geirrt hatte, und dann sah er mich auf eine ganz andere Art an, als ob er sich selbst fragte, ob ich mich geirrt haben könnte oder ob ich ihn von vornherein auf den Arm genommen hätte, und weil er begriffsstutzig und misstrauisch war (obwohl paradoxerweise auch listig), fragte er mich, sich anscheinend erinnernd, wer ich sei, fragte es mit einem boshaften Lächeln auf den Lippen und ich sagte, Scheiße, Jara, ich bin es, Bolaño, und aufgrund seines Lächelns wäre es jedem klar gewesen, dass er nicht Jara war, aber er ließ sich auf das Spiel ein, als ob er nun plötzlich, vom Schlag des Blitzes getroffen (nein, ich zitiere keinen Vers aus Lihns Gedichten und noch weniger aus meinen eigenen) für einige Minuten akzeptierte, so zu leben, als ob er dieser unbekannte Jara sei, der er nie sein würde, außer dort, festgehalten auf den letzten drei schimmernden Stufen, und er fragte mich aus über mein Leben, fragte mich in seiner Borniertheit, wer ich sei, gab tatsächlich zu, Jara zu sein, aber ein Jara, der die Existenz Bolaños schlicht vergessen hatte, was andererseits auch nicht unwahrscheinlich war, also erklärte ich ihm, wer ich sei und gleichzeitig ihm, wer er sei, und was diesen letzten Punkt betrifft, erfand ich einen Jara, der sowohl mir als auch ihm maßgeschneidert entsprach, was heißen soll, dass er diesem Augenblick angemessen entsprach, ein unglaubwürdiger, intelligenter, mutiger, verwegener, reicher, großzügiger Jara, ein Jara, der eine wunderschöne Frau liebte und sie ihn, und dann lächelte dieser Gangstertyp, von Mal zu Mal mehr innerlich überzeugt davon, dass ich ihm einen schlechten Scherz auftischte, aber unfähig, einen Schlussstrich unter diese Episode zu ziehen und ging dazu über, sich so zu verhalten, als hätte er eine Lektion erteilt bekommen, als ob er sich sofort in das Bild verliebt hätte, das ich ihm geliefert hatte und animierte mich nicht nur weiter von Jara zu erzählen, sondern auch von den Freunden Jaras und schließlich von der ganzen Welt, die für alle einschließlich Jara viel zu groß geworden war, eine Welt, in der selbst dieser famose Jara eine Ameise gewesen wäre, deren Tod auf einer glänzenden Treppe für niemanden und nichts von Bedeutung war, und dann erschienen schließlich seine Freunde, zwei noch größere Schläger in ausgeblichenen, zweireihigen Anzügen, die mich ansahen und dann den falschen Jara ansahen, als ob sie ihn fragen wollten, wer ich sei und ihm blieb nichts anderes übrig, als zu sagen, das ist Bolaño, und die zwei Schläger begrüßten mich; ich schüttelte ihre Hände voller Ringe, teuren Uhren, goldenen Armbändern, und als sie mich einluden, etwas mit ihnen zu trinken, sagte ich ihnen, ich kann nicht, ich bin mit einem Freund hier, drängte mich dann an Jara vorbei und verschwand ins Innere der Bar. Lihn saß immer noch an seinem Platz. Aber jetzt befand sich kein einziger begeisterter Anhänger mehr in seiner Umgebung. Das Glas war leer. Er hatte seine Medizin genommen und wartete. Ohne ein Wort zu sagen, gingen wir auf sein Zimmer. Er wohnte im siebten Stock und wir nahmen den Fahrstuhl, ein riesiger Fahrstuhl, in den man gut mehr als dreißig Leute hätte hineinpacken können. Sein Zimmer dagegen war ziemlich klein, vor allem wenn man an das ganze Material chilenischer Schriftsteller denkt, deren Räume für gewöhnlich nicht groß genug sein können, aber er hatte nicht einmal Bücher. Auf meine Nachfrage antwortete er, dass sie unnötig wären, weil er fast nichts mehr lesen würde und fügte hinzu: aber Bücher habe ich immer. Von seinem Zimmer aus konnte man die Bar sehen. Als ob der Boden aus Glas bestehen würde. Ich kniete mich eine Zeit lang hin und widmete mich der Betrachtung der Leute dort unten, hielt nach den begeisterten Anhängern und den drei Gangstern Ausschau, aber ich sah nur Unbekannte, die aßen und tranken, sich hauptsächlich von einem Tisch und von einer Nische zur anderen bewegten oder von einem Punkt der Bar zum anderen, und die alle von einer hektischen Aufgeregtheit erfasst waren, als würde man in einem der Romane aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts lesen. Nachdem ich eine Weile in meinen Betrachtungen versunken war, kam ich zu dem Schluss, dass irgendetwas faul war. Wenn der Boden von Lihns Zimmer aus Glas wäre und die Decke der Bar wäre es auch, was war dann mit den Stockwerken vom zweiten bis zum sechsten Stock passiert? Waren sie auch aus Glas? Dann richtete ich meinen Blick wieder nach unten und begriff, dass es zwischen dem zweiten und dem sechsten Stockwerk nur Leere gab. Diese Entdeckung machte mir Angst. Wir sind am Arsch, Lihn, wo hast du mich hingebracht, dachte ich, obwohl ich dann dachte, verdammt noch mal, Lihn, wo haben sie dich hingebracht. Behutsam richtete ich mich wieder auf, denn ich wusste, dass an einem Ort wie diesem die Dinge noch vergänglicher waren als die Menschen, ganz im Gegenteil zu dem, was normalerweise der Fall war, und ich hielt weiter Ausschau nach Lihn – der sich nicht mehr an meiner Seite befand – und suchte in den diversen Zimmern der Wohnung, die mir nun gar nicht mehr klein vorkamen, sondern mehr wie das große, maßlose Haus eines europäischen Schriftstellers, wie das Haus eines chilenischen Schriftstellers oder eines Schriftstellers der Dritten Welt, mit billigen Bediensteten und wertvollen, zerbrechlichen Gegenständen, ein von beweglichen Schatten durchflutetes Haus, mit halbdunklen Räumen, in denen ich zwei Bücher fand, das eine klassisch wie ein glatter Stein, das andere modern und zeitlos wie aus Scheiße, und je länger ich nach Lihn suchte, desto kälter wurde mir auch, desto wütender und kälter wurde ich; ich fühlte mich krank, als ob die Wohnung sich um eine imaginäre Achse drehen würde, bis dass sich eine Tür öffnete und ich einen Pool sah, in dem Lihn schwamm, und dann, bevor ich meinen Mund aufmachen konnte um etwas über diese Verwandlung zu sagen, beschwor Lihn, dass das Schlechte an seiner Medizin wäre, der Medizin, die er zum Überleben einnahm, dass sie ihn in gewisser Weise zu einem Versuchskaninchen der Pharmaindustrie mache, Worte, die ich in dieser Form zu hören erwartet hatte, als ob das Ganze ein Theaterstück wäre und ich mich schlagartig an meine Sätze erinnert hätte und an die Sätze derer, denen ich eine Antwort schuldete, und dann kam Lihn aus dem Schwimmbecken und wir fuhren in das Erdgeschoß hinunter und bahnten uns einen Weg durch die Menge in der Bar, und Lihn sagte, dass die Tiger erledigt seien, und: es war schön, solange es dauerte, und: du wirst es nicht glauben, Bolaño, also pass auf, in diesem Stadtteil gehen nur die Toten spazieren. Mittlerweile hatten wir zwei die Bar durchquert und standen an ein Fenster gelehnt mit dem Blick auf die Straßen und Fassaden dieses so eigenartigen Stadtteils, wo nur die Toten spazieren gingen. Und wir schauten und schauten und die Fassaden waren ohne jeden Zweifel die Fassaden einer anderen Zeit, genauso wie die an den Bürgersteigen abgestellten Wagen einer anderen Zeit angehörten, einer lautlosen und dennoch beweglichen Zeit, (Lihn sah, wie sie sich bewegte), eine schreckliche Zeit, die aus keinem anderen Grund andauerte, als aus reiner Trägheit.
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(nichtkommerzielle Übersetzung für den Privatgebrauch von Dietmar Hillebrandt der Erzählung „Encuentro con Enrique Lihn“ von Roberto Bolaño, mithilfe der spanischen Erzählsammlung „Putas asesinas“, © Editorial Anagrama 2001 und der englischen Übersetzung von Chris Andrews in „The Return“, © New Directions Publ. Corp. 2010)

[1] Im Original: „Duchamp des cygnes“, ob bewusste Anspielung auf die französischen „Schwäne“ oder lediglich eine unklare Erinnerung an den Wortlaut des Buchtitels ist unklar.

[2] Das ungewöhnliche Wort „Grünschnäbel“ verdanke ich der Übersetzung von Heinrich v. Berenberg in „Chilenisches Nachtstück“ für „joven envejecido“, das dort ein Synonym für das Gewissen des Erzählers Sebastián Urrutia Lacroix darstellt.