E. A. Richter: Fliege. Roman eines Augenblicks

E.A.Richter_Fliege

Bei diesem formschönen Buch steigt ein Bild von groben Fingern in mir auf, die sich entgegen ihrer Beschaffenheit dem Gegenstand unbeholfen aber behutsam nähern. Wie die menschliche Hand dem durchsichtigen, zerbrechlichen Flügel einer Fliege. Eben diese setzt sich auf den Rand des Computermonitors eines Autors und das winzige Lebewesen wird Ursprung eines ganzen Romans. Das handschmeichlerische Äußere passt zur sorgfältigen Edition, ganz ohne die sonst störenden Druckfehler großer Verlage. Ein wenig kafkaesk mutet es schon an, wenn der Ich-Erzähler selbst dann Adam Fliege heißt. Diesen humorvoll gewählten Namen aber trägt er zu recht, denn er stellt sich im Verlauf einerseits als sexuell prototypischer Mann heraus und andererseits werden die zu erzählenden Dinge mit dem Detailreichtum eines Insektenauges in einem Erzählverlauf geschildert, der assoziativ der Unberechenbarkeit einer Flugbahn besagter Fliege entspricht.

Das zusammenhaltende Band des Romans bilden die rückblickenden Erinnerungen des Ich-Erzählers auf seine Familien- und Liebesbeziehungen, die eine bis zum Zweiten Weltkrieg reichende Vergangenheit mit der erlebten Gegenwart verbinden. Der Leser muss sich die Fliegen auf dem Umschlag als einzelne Gedankensplitter vorstellen, die dieses Beziehungsnetz formal erzählerisch in einzelne Absätze überführen und dabei mit einer Sprachsensibilität ausgeführt werden, die dem Vers in der Lyrik vergleichbar ist. Ein Kapitel wäre dann das Äquivalent einer Strophe und die Prosa wandelt sozusagen auf der Schnittstelle zur Lyrik, die neben den zwei erschienenen Romanen ein Schwerpunkt des Schriftstellers E. A. Richter ist. Gerade erschien auch sein neuer Gedichtband “Schreibzimmer”.

Schon der erste Absatz, in dem der Ich-Erzähler das namensgleiche, über den Bildschirm krabbelnde Objekt am Ende mit den gleichen zwei Worten “Soeeben flog…” beschreibt wie zu Beginn, lässt einemc_escher_haende selbstreflexive Schleife erkennen, die mich an ein bekanntes Bild von M. C. Escher erinnerte. Die Erzählhaltung des sich selbst über die eigene Schulter schauend Schreibenden, wird sich als Erzählprinzip durch das ganze Buch ziehen. Der poetische Blick gleicht dem Facettenauge der Fliege und so wird in einer voyeuristischen Szene, in der der Ich-Erzähler die Tochter Julia der Nachbarin am Swimmingpool beobachtet, nicht direkt sie selbst, sondern ihr farbiger Bildabdruck in der Wölbung des Auges beschrieben:

So nahe käme ihr nur ein Insekt oder Arzt. Der hätte eine Spaltlampe, das Insekt, etwa eine Fliege, Facettenaugen. Als solche würde ich Julia in Farben wahrnehmen, die ins Ultraviolette hin verschoben sind. Außerdem wäre es ein Mosaikbild mit geringerer Auflösung, doch mit einem viel weiteren Blickfeld.

Darin offenbart sich exemplarisch das gesamte Erzählkonzept der detailreichen Beschreibung gemischt mit einem geweiteten Blickfeld, welches das des Erzählers selbst ist. Dieser rekapituliert in einem assoziativen Rechenschaftsbericht sein Leben. Neben der Mutter und dem Vater sind es vor allem die Beziehungen zu drei Frauen, die dabei immer wieder in seinen Fokus geraten. Die Ex-Frau Karla mit dem Schwiegervater Karl, die Journalistin Flora und die Archäologin Birgit. Durch die beiden letzteren erfährt der Leser viel über die gesellschaftliche Atmosphäre Österreichs. Eher repressive Kulturpolitik in der Gegenwart und ein Denunziationsklima in den Terrorismuszeiten der siebziger Jahre. Während seiner Ehe lebten er und Karla unter einem Dach mit dem Schwiegervater, der ihn zum Nichtsnutz abstempelt und politisch als linker Terrorismussympathisant zu diffamieren versucht. Auffällig dabei allerdings ist, dass diese aus Sicht des Erzählers negative Figur auch menschlich nachvollziehbar und dennoch liebevoll geschildert wird. Überhaupt gelingt es, durch ausgezeichnete Dialogpassagen die Personen lebendig zu gestalten. Man nimmt es dem Erzähler ab, um authentische Beobachtungen bemüht zu sein, die er in einer ganz eigenen Sprache zu Papier bringt. Gleichzeitig wird aber auch die eigene Schreibsituation z. B. in einem Dialog mit Birgit hinterfragt:

Muss ich als Leserin nicht getäuscht werden, damit ich dir in deiner Erzählung folge?
– Glaub mir, im Kopf hab ich nur die momentane Wahrheit, nicht die Täuschung.
– Die muss ja gar nicht Absicht sein. du kannst ihr aber nicht entkommen – du selbst täuscht dich nämlich.

Dann spannt der Erzähler Adam Fliege seinen weiten Erinnerungsbogen mal zum kindlichen Baden mit der Mutter, die keine Stelle seines Körpers auslässt und damit wohl die ersten sexuellen Regungen hervorrief, bis zur Schilderung ihres Todes, der genauso wie der Tod des Vaters und auftauchende Kriegserinnerungen eine schwer zu verarbeitende Last für ihn bleiben. Die Schilderungen von Krankheit und Tod wirken ergreifend, demgegenüber steht der eher leichte, mit einem unterschwelligen Wiener Charme versehene Ton in den erotischen Beschreibungen. Bei aller Deutlichkeit manch voyeuristischer Gelüste, wirkt das Sexuelle nie obszön überzogen, mehr mit leicht schmunzelnder Hand hingeworfen. Eine klar strukturierte Erzählform in kurzen absatzartigen Blenden hält das manchmal Disparate der Erinnerung stets gekonnt zusammen. Die poetisch genaue Beschreibung von Beziehungsgeflechten, durch treffende Dialoge aufgelockert, hielt bei mir das Leseinteresse immer wach. Ein ganz eigen gestaltetes Erinnerungspanorama österreichischen Lebens, in dem sich Trauer, hintergründiger Humor und Gesellschaftskritik abwechseln. Durchsetzt ist der Text auch mit Verweisen auf Literatur und Kunst. Beim alten Freund Heimo z. B. musste ich immer ungewollt an Heimito von Doderer denken. Ob er seinen Namen dem Schriftsteller verdankt bleibt jedoch unklare Vermutung. An anderer Stelle wird die Beschreibung des Gemäldes “Akt auf einer Treppe” von Gerhard Richter geschickt eingebaut oder auf ein Werk des japanischen Schriftstellers Akiyuki Nosaka referenziert. Bei diesen Bezügen scheint die Vergangenheit E. A. Richters als bildender Künstler durch. Für einen Mann, der Fliege heißt, ist es nur folgerichtig, dass wir ihn am Ende des Buches auf einem Flughafen antreffen und er noch einmal im Rückblick drei Frauen um sich versammelt, bevor auch wir unsere Brille absetzen und die Fliege zu einem verlöschenden Punkt auf dem Computermonitor oder am Himmel wird.

Fliege_Illustration

Beeindruckt hat mich vor allem das konsequent durchgehaltene Erzählkonzept und die dabei nie verloren gehende sprachliche Konzentration. Abschließend möchte ich sagen, dass ich den Roman gern gelesen habe und so klug sprachlich im Wortsinne verdichtete Prosa, wo ein Wort noch wie in der Lyrik auf die Waage gelegt wird, bevor man es verwendet, sollte nicht nur erwähnt, sondern auch gelesen werden. Apropos Erwähnung, ich habe mir eine neuere Österreichische Literaturgeschichte von Klaus Zeyringer ausgeliehen und leider kam E. A. Richter darin nicht vor, was ich als Unterlassungssünde werte. Anspruchsvolle, poetisch originäre Literatur hat es nicht leicht, wahrgenommen zu werden. Was die Lyrik und Prosa E. A. Richters betrifft, sollte sich das in Zukunft ändern.

Fliege. Roman eines Augenblicks bei Amazon
Rezension von Alexandra Millner

E. A. Richter: Fliege. Roman eines Augenblicks.
Wien: Edition Korrespondenzen 2010.
228 S.; geb.; Euro 22,-.
ISBN 978-3-902113-60-3