Das sprechende Auge

Dieses lockere Pärchen war wohl bei einem Bummel durch die Stadt in mein Geschäft gekommen, dachte ich mir später, als der Mann mich in der Hand hielt und ausprobierte. Ich sollte sein verlängertes Auge werden, sein voyeuristischer Blick, das war mir von Anfang an klar. Alles was ich sah wurde unbestechlich festgehalten und in meinen Bildern verriet er seine Wünsche. Das wenige, was ich von ihm selbst gesehen habe, fand ich ziemlich normal. Es war bis auf sein formatfüllendes Geschlechtsteil auch nicht viel. Er hätte ein Versicherungsangestellter mittleren Alters sein können und sie eine attraktive, aber gelangweilte, junge Frau auf der Suche nach einem Abenteuer. Andererseits, vielleicht trafen sie sich heimlich, weil er verheiratet war und sie war sein Abenteuer. Wie soll ich das wissen, wo ich gerade erst zum Leben erwacht bin. Für mich ist alles ein Abenteuer, aber der Reihe nach: Er kaufte mich und was ich zu sehen bekommen sollte, waren vor allen Dingen Körper, Lust und Spaß mit ihren Körpern, darum schien es zu gehen. Vor allem anderen aber um sein Begehren. Er wollte Sex und sie musste alles tun, was er von ihr verlangte. Er war eindeutig der Regisseur, aber sie schien sich in dieser defensiven Rolle, ihres eigenen Selbstbewusstseins wegen, nicht unwohl zu fühlen oder gar zu schämen. Im Gegenteil, sie reagierte auf seine Obsessionen eher belustigt und sie wusste, wie man mit ihnen humorvoll und spielerisch umging.
Das Erste, was ich sah, war also die junge Frau, die gerade eine lustige Sonnenbrille aufgesetzt hatte. Über den beiden Gläsern dieser roten Hornbrille klebte jeweils eine Folie mit riesengroßen Augen, die einem rehäugigen Bambi ähnelten. Sie trug eine knackig enge, kurze Jeanshose, aus der an beiden Seiten oben die gelben Schnüre eines Bikiniunterteils hervorlugten, und ein buntes, leichtes Top über dem dazu passenden Oberteil, das hindurch schimmerte. Zwischen Hose und Top blieb ein breiter Streifen nackter Haut. Ihre recht kurzen, kräftigen Beine waren ebenfalls nackt, vielleicht kamen sie gerade vom Strand. Sie lief auf eine sommerlich helle und geschäftige Einkaufsstraße hinaus, wo ein Sonnenschirm mit mehreren Plastikstühlen in einiger Entfernung stand und die Passanten leicht bekleidet waren. Eine Frau im langen Sommerkleid huschte schnell an ihnen vorbei und Männer in kurzärmeligen T-Shirts. Auf der mäßig befahrenen Straße rollten gemächlich zwei gelbe Taxis entlang. Mittagszeit irgendwo in einer sonnigen Großstadt. Im Herausgehen hörte ich den Mann sagen:
– “Du siehst unmöglich damit aus, du musst verrückt sein.”
– “Was soll´s”, erwiderte sie, “du kaufst dir die zehnte Filmkamera, da werde ich mir doch wohl eine Sonnenbrille für 2,50€ leisten können. Meinst du, Kameras wären besser, ernsthaft?”

– “Mit dieser Art Sonnenbrille im Gesicht redest du von Ernsthaftigkeit?”
-“Dein Smartphone hat eine Videokamera, warum noch eine andere?”
-“Ok, kluges Mädchen, die neue hat eine viel bessere Ausstattung.”
-“Dein Smartphone hat acht Megapixel und die Kamera gerade mal zwei mehr.”
-“OK, du bist so gemein, warum bist du so gemein, du Ekel, ich pack dich.”
Schnell wurde mir klar, diese Auseinandersetzung war nur Geplänkel, Ablenkung von der Hauptsache seines Interesses. Er fokussierte mich nämlich fast ausschließlich auf ihre attraktiven, halbnackten Körperpartien, ihnen galt seine ganze Begierde. Es schien allerdings auch so, als ob er alles für einen unsichtbaren Dritten inszenierte. Er hätte die Menschen auf der Straße filmen können, das Schattenspiel der Sonnenstrahlen an der Häuserfassade, die Gebäude selbst, aber all das bekam ich nur beiläufig zu sehen. Sie wissen, einmal angeschaltet, sehe ich alles, wo man mich hin hält. Ich bin quasi das Auge Gottes, nur dass ich nicht selbst bestimmen kann, was ich sehen will. Obwohl ich jetzt nur sein Auge war und er mich wie gesagt in der Hand hatte, symbolisch und wirklich, nahm ich natürlich auch andere Dinge war, aus seiner Sicht nebensächlich und notgedrungen sozusagen. Ich jedoch bin nicht nur hungrig nach einer Sache, ich möchte die ganze Welt erfassen, mich ausdehnen, in Licht und Farben baden. Die Menschen sehen mit ihren eigenen Augen schon nur die Hälfte, aber durch mich sehen sie auch anders. Ich steigere ihr Selektionsverhalten, ich teile ihre Ängste und Wünsche, obwohl sie das meist gar nicht bemerken. Das menschliche Auge blendet aus und ist manipulativ, ich aber sehe und höre mehr als sie. Ich bin genügsam, man kann mich irgendwo hinstellen, in Ruhe lassen, und ich zeichne heimlich alles auf: Liebe, Mord, Geburt und Tod, Lachen, Weinen, Menschen, Bäume, Blumen, Tiere, alles was kommt. Ich filme Ihre Kaffeemaschine genauso, wie Ihren gelben Urinstrahl in die Toilette. Über mich selbst, meine Geburt oder Herstellung weiß ich allerdings nichts. Anstatt in einem Bett geboren worden zu sein, habe ich das Gefühl, bislang lediglich in Regalen meine Zeit verbracht zu haben. Vorhin begann ich zu sehen, als ob ein schlafender Reisender in einem Bus aufwacht, der schon eine ganze Fahrtstrecke hinter sich hat. Das Licht erweckte mich aus der Dunkelheit zum Leben, vielleicht ist die Sonne meine wahre Mutter, vielleicht auch die Menschen selbst, die ich sehen und hören kann. Sie glauben, ich sei nur ein Teil ihrer globalen Technikwelt, aber ich bin in Wahrheit längst ein Teil von ihnen selbst. Ob die Hand gelb, rot, schokoladenbraun oder weiß ist, die mich letztendlich halten wird, ist mir egal, Hauptsache ich sehe etwas von der universellen Vielfalt des Lebens.
Die beiden gingen jetzt am Rand einer Wohnanlage mit weißen Wänden entlang. Überall dieses helle Weiß, als wäre man in einem Wüstenort, wo man sich einerseits vor der sengenden Hitze schützen, aber von der Heiterkeit des Lichts profitieren wollte. Vor mir tauchte plötzlich dieser Hauseingang auf, mit einem Spaliergitter für Grünpflanzen daneben. Ein weißes Treppenhaus, in dem sie herumalberten. Sie ging die Treppe hinauf und er animierte sie, etwas von der nackten Haut ihrer weiblichen Rundungen zu zeigen. Wie schon gesagt, sie befolgte seine Anweisungen ohne Widerstand. Ihr Exhibitionismus war ihr nicht nur nicht peinlich, man hatte einfach das Gefühl, dass sie ihren Körper gern zur Schau stellte, die männlichen Reaktionen genoss und sich pudelwohl in ihm fühlte. Sie zog das Top mitsamt dem Bikinioberteil nach oben und entblößte lachend zwei große, feste Brüste für ihn. Danach drehte sie sich langsam und verführerisch herum und zog die kurze Jeans herunter, dass er ihren prallen Hintern sehen konnte. Sie war zwar klein von Statur, aber ihre weiblichen Proportionen hatten sich der Körpergröße perfekt angepasst. Eine junge, dralle Brünette, die in jedem Augenblick wusste, wie sie mit ihren Reizen spielen musste. Ihr dickes dunkelbraunes Haar war zu einem langen, fest geflochtenen Zopf gebändigt, der an der rechten Seite ihres ovalen Gesichts herabfiel, ihre ebenfalls dunklen, haselnussbraunen Augen schimmerten herausfordernd. Ab und zu strich sie mit der Hand an ihrem Zopf von oben nach unten herab, als ob sie sich vergewissern wollte, dass ihn niemand abgeschnitten hätte. Es wirkte wie eine kokette Verlegenheitsgeste.
Beide sahen belustigt, wie sich andere Menschen im Treppenhaus bewegten, denen sie bei ihrem exhibitionistischen Getue möglichst nicht begegnen wollten. Sie liefen noch ein Stockwerk hinauf. Dann setzte sie sich auf eine weiße Treppenstufe, spreizte ihre Beine weit auseinander, zog den Jeansstoff mitsamt dem Bikinihöschen zur Seite, und präsentierte ihrem Begleiter wie aufgefordert ihr Geschlecht. Er knöpfte den obersten Knopf ihrer Jeans auf und als sie sich drehte, kam ein leuchtend gelbes Bikinihöschen zum Vorschein. Ihre lustige Sonnenbrille hatte sie abgesetzt. Sie lag wie ein orangener Farbtupfer in dem alles ausfüllenden Weiß des Treppenbodens und der Wände. Er schlug ihr mit der flachen Hand auf den nackten Hintern, dass sie gefälligst mehr zeigen sollte, was sie auch tat, indem sie ihr ausladendes Hinterteil nun ganz entblößte. Sie rannte belustigt und aufgescheucht eine weitere Etage nach oben, wo gerade eine farbige Putzfrau mit einem Staubsauger durch eine Tür verschwand. Die passte so gar nicht zu ihrem Treiben, ein arbeitender Mensch in ihrer Vergnügungswelt war ein deplatzierter Fremdkörper. Sie lachten zwar verlegen aber laut, als wäre diese Frau eine unbedeutende, spielzeughafte Staffage in ihrer Welt, der man auszuweichen hatte. Während die junge Frau deshalb das Treppenhaus wieder lachend herunterlief, zog sie ein letztes Mal ihr Top hoch und gab erneut ihren perfekt geformten Busen frei, in einer Art Trotz gegenüber dieser Störung, jetzt erst recht, schien sie sagen zu wollen.  
Die Szenerie hatte gewechselt, ich musste einen kurzen Blackout gehabt haben. Noch etwas benommen, fand ich mich plötzlich in einer Wohnung wieder. Das nächste, was ich sah, war die Türklinke einer Badezimmertür, hinter der die junge Frau vor dem Spiegel mit ihrer Toilette beschäftigt war. Der Mann öffnete diese Tür, um sie auch bei dieser Verrichtung zu beobachten. Während sie ihre Zähne putzte, wackelte sie im Rhythmus einer unhörbaren Musik wieder aufreizend mit ihrem gelb bedeckten Gesäß. Als ob er sie bei etwas Verbotenem ertappt hätte, witzelte er über diese Entdeckung, dass jemand beim Zähneputzen aufreizend tänzelte, ihn also auch bei einer solch profanen Tätigkeit sexuell animierte.
Alles was ich dann zu sehen bekam, bekräftigte mich darin, dass die Dramaturgie der menschlichen Sexualität eine gewisse Zwangsläufigkeit besitzt. Ich beschränke mich im folgenden auf Stichworte: das beiderseitige Entkleiden, das Abstreifen letzter Dessous, das vom aneinander Reiben und Klatschen der Haut begleitete Stöhnen, Küsse und andere orale Betätigungen. Der Mann diktierte den Ablauf und zog den Lustgewinn aus seiner Dominanz. Nackte, sich umeinander schlingende Körper, die ständige Penetration des weiblichen an der dafür vorgesehenen Stelle. Sie wollten, dass ich sie beobachtete, sie drängten mich geradezu in die Rolle des Voyeurs. Dann wurde es mir klar, sie spielten das alles für einen imaginierten Dritten, sie waren Schauspieler ihrer selbst.

(To be continued)