Dieter Wellershoff: Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort  Wellershoff

Der auktoriale Erzähler nimmt in einem Text eine ähnliche Position ein wie ein allwissender, archaischer Gott, der das Schicksal der Welt und der Lebewesen erschafft und von einem alles überschauenden Standpunkt lenkt. Dieter Wellershoff erzählt uns die Geschichte des evangelischen jungen Pfarrers Ralf Henrichsen mit eben dieser Erzählhaltung, beschreibt dabei aber unerhört einfühlsam nicht nur die Gedankenwelt seines Protagonisten, sondern auch die Lebensumstände aller anderen Personen, mit denen er während einer kurzen Zeitspanne von einigen Monaten zusammentrifft. Der junge Pfarrer befindet sich in einer doppelten Krise, der des Glaubens und der Liebe. Nach einer Trennung führt er ein Junggesellenleben, in der kirchlichen Gemeinschaft fühlt er sich ebenfalls als Einzelgänger. Im Prinzip zweifelt er an Gott und der Liebe gleichzeitig. Nach einem Verkehrsunfall, der aber auch ein Tötungsdelikt sein kann, betreut er als Seelsorger den einzig Überlebenden, der aber auch seine eigene Frau und ihren gemeinsamen Sohn getötet haben könnte. Während die gesamte Gemeinde in dem Verdächtigen schon den Mörder sieht, versucht Henrichsen bei der Unschuldsvermutung zu bleiben. Im Zusammenhang mit seinen Glaubenszweifeln und dieser kirchlich unerwünschten Haltung (die Eltern der Getöteten sind finanzstarke Gemeindemitglieder) scheint er wie in einen Taumel zu geraten. Kirche und Gesellschaft grenzen ihn aus. Er aber sucht beharrlich, wie wohl generell viele Romanprotagonisten, nach einem Sinn in seinem Leben. In einem anderen Roman Wellershoffs “Der Liebeswunsch” findet die Hauptfigur dabei am Ende den eigenen Tod. “Der Liebeswunsch” wechselte oft die Erzählhaltung und beschrieb das Beziehungsgeflecht zweier Paare aus unterschiedlicher Perspektive. In “Der Himmel ist kein Ort” bleibt der Erzähler durchgehend bei der Figur des Pfarrers. Eindimensionalität kann man Dieter Wellershoff aber nicht vorwerfen, im Gegenteil gewinnt der Roman seine Überzeugungskraft aus dem Kontrast der sachlich, realistischen, präzisen Sprache und dem unerhörten Einfühlungsvermögen des Autors in die Gedanken- und Gefühlslage der handelnden Personen. Was wie eine Art Krimi beginnt hört allerdings nach zwei Dritteln des Romans relativ abrupt auf, um in eine Art hoffnungslose Liebesgeschichte überzugehen, wobei vorher noch die geistige Gemengelage der evangelischen Kirche auf einem Kongress zum Anlass genommen wird, über Religiosität in der heutigen Gesellschaft zu philosophieren. So genau  Wellershoff auch hier die soziale Atmosphäre bzw. das kirchliche Milieu schildert, es wirkt dennoch etwas wie ein Essay des Autors selbst, allerdings in Form von Dialogen. Die Einbeziehung der jugendlichen Rap-Kultur durch den Liedtext einer auftretenden Band, dem das Buch auch den Titel verdankt, wirkt doch etwas so, wie die Gospel- und Gitarreneinlagen in angeblich modernen Gottesdiensten. Moderne, sowohl die des Buches, als auch eine kirchliche, hätte anders auszusehen. Diese sich gesellschaftlich anbiedernde Oberfläche kann über die tiefen Risse in Gesellschaft und Kirche nicht hinwegtäuschen. Die Hilflosigkeit innerhalb dieser Sinnkrise kommt auch ein bisschen in dem Vortrag einer Lesung dieses Liedtextes durch den Autor selbst zum Ausdruck, den ich als Video beifüge. Aber vielleicht beabsichtigt Dieter Wellershoff auch genau dies darzustellen. Das letzte Viertel des Romans wird von einer Art Liebesversuch eingenommen. Wenn man schon keinen Sinn mehr im Glauben findet, vielleicht liegt er ja doch in der Liebe. Eine wesentlich ältere, wohlsituierte, geschiedene Dame schreibt dem Herrn Pfarrer von ihren Liebeswünschen, die ein einziger Blickkontakt bei einer Hochzeitsfeier bei ihr ausgelöst hat. Henrichsen fühlt sich angesprochen aber auch irritiert. Schließlich kommt es zu einem überstürzten Treffen und nach einer enttäuschenden Übernachtung bei der Dame, muss man gemeinsam den Verlust aller Illusionen in Bezug auf eine gemeinsame Zukunft ertragen. Henrichsen fühlt sich von den Erwartungen der älteren Frau erdrückt, die Dame selbst kann ihm sexuell und gefühlsmäßig  nicht das geben, was dieser von ihr erhoffte. Der Graben zwischen den Menschen lässt sich weder durch Glaube noch Liebe überbrücken, sie bleiben letztlich in ihrem eigenen Selbst gefangen. So löst sich auch der Kriminalfall am Ende in makabren Wohlgefallen auf. Der Verdächtigte begeht Selbstmord. Nach einer unspektakulären Beerdigung kehrt wieder Ruhe in der Gemeinde ein. Überhaupt hat man den Eindruck, dass sich am Ende des Romans alles in Konformität auflöst. Die ältere Dame schreibt noch einen Brief, indem sie mitteilt, wieder in getrennten Wohnungen bei ihrem geschiedenen Gatten zu wohnen und der Pfarrer passt sich wieder in seinen Berufsalltag ein. Dass der “Himmel strahlend blau”  im letzten Satz bleibt, kann nur bittere Satire sein oder weltabgewandte Weisheit, zwischen diesen Polen schwebt auch dieser bemerkenswerte Roman.

Dieter Wellershoff: Der Himmel ist kein Ort