“Es gebe eine Bewegung vor und zurück, es gebe einen Puls im Leben. Sie habe die Hoffnung, dass sie in diesem Werk entdecken werde, was vorgehe. Etwas Grundlegendes. Erfunden, aber auch nicht.”
Das Motiv der Reise (in meinem Hinterkopf immer auch noch eine Rede von Cees Nooteboom dazu), sei es Zug- oder Busfahrt, taucht häufiger als Ausgangspunkt für die Erinnerungen der jeweiligen Protagonistin auf. Als weiteres Zugbeispiel sei “Japan erreichen” im neusten Band “Liebes Leben” oder die Busfahrt in “Dimensionen” aus “Zu viel Glück” genannt.
“Zu viel Glück” lautet der Titel dieser Erzählung, Glück jedoch lässt sich weder herbeierfinden, noch gibt es ein Anrecht darauf. So hat die Wissenschaftlerin zwar genialen Erfolg und Ruhm in ihrem Beruf, das ersehnte Liebesglück aber bleibt immer vage und getrübt. Aus der anfänglichen Scheinehe aus beruflichen Gründen wird später zwar eine Beziehung, aus der sogar eine Tochter hervorgeht, wirkliche Liebe aber wird es nie. Auch die Wunschhochzeit mit dem entfernten Verwandten Maxim kommt nicht zustande. Ob sie wirklich wiedergeliebt wird und glücklich geworden wäre, bleibt zweifelhaft. Der zuletzt erwähnte Ort ist ein nach ihr benannter auf dem Mond, das romantische Symbol der Verschmelzung mit dem All, auf ewig berühmt, zu viel berufliches Glück auf der einen und zu viel unerfüllte Liebessehnsucht auf der anderen.
Es ist dann doch eine insofern typische Erzählung Munros, weil sie die beiden Hauptthemen, die das komplette Werk durchziehen, die Liebe und das Leben hier historisch biographisch fasst und sogar wie eine Anrufung zum Gesamttitel des neuesten Erzählbandes macht. Das Versiegen dieser letzten, titelgebenden Erzählung in immer kürzer werdenden Absätzen ähnelt einem langsamer werdenden Zug, seinen geräuschvoll quietschenden, ausrollenden Rädern, wie ein Herzschlag, der allmählich zum Stillstand kommt.
Weitere Beiträge zu Alice Munro:
Small collection of her free available stories in English
Über die Erzählung “Manche Frauen” aus dem Band “Zu viel Glück”
Alice Munro: Runaway
Wie Sie die Verlangsamung des Erzählens beschreiben, die synchron verläuft zum Ausklingen des Lebens – das hat mich sehr überzeugt. Und vielen herzlichen Dank auch für die Verlinkungen, die noch einmal weitere Hintergründe eröffnen.
Mich hat diese Erzählung, die auch von ihrer Länge her ungewöhnlich im Werk von Alice Munro ist, überrascht. Positiv. Das ging anderen Leser_innen, wie ich erinnere, anders. Raum und Zeit. Was ändert sich an der Erzählung, am Erzählen, wenn die „Daten“ nicht aus dem Reich der Fiktion stammen, sondern aus der „Realität“? Die Antwort: Nichts, halte ich für unbefriedigend. Biographie/Autobiographie und Fiktion – darüber denke ich weiter nach. Es betrifft auch die letzten beiden Texte, die Alice Munro veröffentlich hat und die sie als autobiographische gekennzeichnet hat. Momentan denke ich, es wäre einen Versuch wert, mit dem Wort „Treue“ zu „operieren“. Die Treue gegenüber den realen Daten lässt vielleicht an anderer Stelle eine „Untreue“ (gegenüber den Figuren???) zu, die sie sich in anderen Erzählungen nicht leisten kann. Aber das ist nur eine These, ganz unüberprüft.
Herzliche Grüße
Melusine
Gerade habe ich, angeregt durch Ihren Kommentar, die gleichnamige, autobiographische letzte Geschichte in „Liebes Leben“ gelesen, obwohl ich bisher nur die erste „Japan erreichen“ überhaupt gelesen habe (meine Frau hatte den Band in Beschlag genommen und ich habe in letzter Zeit aus gesundheitlichen und anderen Gründen sehr wenig gelesen, eigentlich nur „Honig“ von Ian McEwan). Sie ist sich da ja vollkommen bewusst, einen autobiographischen Text zu schreiben und keine ihrer üblichen Erzählungen, dennoch hat man den Eindruck, dass es beinahe egal ist, wovon sie schreibt, selbst kleinste Banalitäten, die eben gerade nur zum „richtigen Leben“ gehören, verwandeln sich bei ihr ins Bedeutungsvolle. Man hat den Eindruck, was immer sie auch erzählen würde, es gelänge ihr, damit Wesentliches auszudrücken, z. B. am Schluss, dass wir alle Schuld mit uns herumtragen, aber ohne die Fähigkeit, uns vielleicht immer wieder ungerechterweise selbst zu verzeihen, gar nicht leben könnten.
Alles Schreiben erscheint mir manchmal wie ein Balanceakt zwischen Authentizität und Fiktion, zwischen denen es so etwas wie eine teilweise (semipermeable?) Membran im Bewusstsein des Schriftstellers geben mag. Auf welcher Seite der Waage sich der schwerere Anteil am Ende befindet, ist Teil des individuellen, künstlerischen Ausdrucks. Das Spiel des Erfindens braucht einen Gegenpol, die Phantasie braucht eine gelungene Erdung. Dokumentarische Authentizität allein gelassen wird schnell langweilig, genauso aber auch ihr vollständiges Fehlen. Salz u n d eine Prise Zucker geben erst den ausgefeilten Geschmack.
In der Erzählung „Zu viel Glück“ wird die historische Sofia Kowalewskaja zwangsläufig zu einer stellvertretenden, auch fiktiven Frauenfigur, an der neben den Fakten menschliches Schicksal und der Mangel an beruflicher Gleichberechtigung exemplifiziert wird. Mit „Treue“ könnte man Munros Phantasieleistung beschreiben, weil sie sich in der Fiktion den historischen Fakten verpflichtet fühlt. Ihre Phantasie versucht nicht, nur Selbstzweck zu sein. Den Arzt aus Bornholm im Zug muss es nie wirklich gegeben haben, aber sie schafft es, ihn als Figur im Erzählkontext authentisch wirken zu lassen. Munros Figuren haben schon mit zwei Sätzen Fleisch an den Knochen und sind keine bloßen Luftnummern.
Solitär auffällig schien mir noch die römische Kapitelzählung, typisch dagegen die Einflechtung literarischer Werke von Alfred de Musset, Heine, Dostojewski, Conrad Ferdinand Meyer und eigener Werke Kowalewskajas wie die Autobiographie „Die Geschwister Rajewski“ oder „Die Nihilistin„.
Herzliche Grüße zurück
Der Buecherblogger