Zeit und Raum in Alice Munros Erzählung “Zu viel Glück”

Zu viel GlueckHistorische Biographie als Fiktion, passt das überhaupt ins Werk von Alice Munro oder fällt es solitär heraus? Kaum wahrnehmbare Übergänge des Erzähltempus, ein Rutschen vom Präteritum ins Präsens und zurück. Diese Kompression von Bedeutung in einem einzelnen Satz. Warum werden die letzten Worte eines Menschen zum Titel einer Erzählung, eines ganzen Buches? Was bedeuten diese letzten Worte der Frau, ihr selbst und uns, die sie in der Erzählung ausspricht? Ist nicht jedes Leben ein glückliches Geschenk? Diese Fragen stellen sich mir gleich am Anfang der Titelerzählung des bisher vorletzten Erzählbandes von Alice Munro. In fünf ungleich langen Szenen, die den Kapiteln eines Romans ähneln könnten, wird rückblickartig aus dem letzten Lebensjahr der 41jährigen Mathematikerin und Schriftstellerin Sofia Kowalewskaja ihr ganzes Leben beleuchtet.

Man muss sich als Leser ja erst einmal im Klaren darüber sein, dass Erzähltes immer einen selektiven Raum und eine selektive Zeit eröffnet, und dass der Autor wie ein König in seinem Reich diese auch unterschiedlich schnell oder langsam vergehen lassen kann. Ein Leben in einem Satz oder der Flügelschlag eines Vogels auf zweihundert Seiten, ein einziger Tag in Dublin als Odyssee für einen Jahrhundertroman.

Diese Erzählung beginnt mit einer sehr genauen Zeit- und Ortsangabe, einer Friedhofsszene am 1. Januar 1891 in Genua. Sie wird im Präsens geschildert wie ein gerade laufender Theaterakt. Die Vorahnung eines bevorstehenden Todes, die den Kreis des Erzählten öffnet und am Ende bestätigt schließt, denn Sofia Kowaleskaja selbst wird bereits im Februar sterben. Geradezu weitläufig europäisch öffnet sich gleichzeitig mit der Zeit auch dann zunehmend der Raum mit Schauplätzen in Paris, Stockholm, rückblickenden Erinnerungen an kindliche Tage auf dem litauischen Gut Palibino und dem südfranzösischen Beaulieu. Von hier aus, in Südfrankreich, geht es allein im Zug zurück an ihre universitäre Wirkungsstätte in Schweden, das einzige Land, das eine weibliche Professorin der Mathematik anstellen wollte. In diesem durch Europa eilenden Zug träumt sie von den Stationen ihrer Vergangenheit. Der Leser wird Zuschauer ihrer geschilderten Lebenserinnerungen. Aus den authentischen, bekannten biographischen Details imaginiert der ungenannt bleibende auktorial Erzählende fiktive Dialoge und Zusammenkünfte. Dieses Hinzuerfinden wählt also bewusst punktuelle Orte und Zeiten aus, schafft eine eigene, der Authentizität angepasste Wirklichkeit. Aus der Reise mit dem Zug wird eine Lebensreise. Die fünf Kapitel hangeln sich an den Etappen dieser letzten Zugreise entlang. Den passierten Städten lassen sich die Kapitel in der Weise zuordnen, dass ihre Erinnerungen sich jeweils auf den Ort beziehen, in dem der Zug gerade hält. Zum Beispiel beim ersten Halt in Paris sind es die Ereignisse der Commune von 1871, in die Freunde, ihr Ehemann, ihre Schwester und ihr Schwager verwickelt sind. Diesem Lebensabschnitt widmen sich vor allem die Kapitel zwei und drei, während das erste noch von den Kindheitserinnerungen durchzogen ist. Das vierte in Berlin handelt von einem letzten Besuch bei ihrem deutschen, wissenschaftlichen Ziehvater Karl Weierstraß, der sie als junge, geniale Schülerin gefördert hatte und mit dem sie in ständigem Briefkontakt blieb. Weiter geht es mit Bahn und Schiff über Rostock, Kopenhagen, Helsingör nach Stockholm, wo sie gesundheitlich angeschlagen noch eine letzte Vorlesung hält. Sie träumt von einem letzten Werk, dessen Beschreibung und Intention wie eine Selbstspiegelung für das gesamte Werk der Autorin Alice Munro stehen könnte:

“Es gebe eine Bewegung vor und zurück, es gebe einen Puls im Leben. Sie habe die Hoffnung, dass sie in diesem Werk entdecken werde, was vorgehe. Etwas Grundlegendes. Erfunden, aber auch nicht.”
Das Motiv der Reise (in meinem Hinterkopf immer auch noch eine Rede von Cees Nooteboom dazu), sei es Zug- oder Busfahrt, taucht häufiger als Ausgangspunkt für die Erinnerungen der jeweiligen Protagonistin auf. Als weiteres Zugbeispiel sei “Japan erreichen” im neusten Band “Liebes Leben” oder die Busfahrt in “Dimensionen” aus “Zu viel Glück” genannt.

Zu viel Glück” lautet der Titel dieser Erzählung, Glück jedoch lässt sich weder herbeierfinden, noch gibt es ein Anrecht darauf. So hat die Wissenschaftlerin zwar genialen Erfolg und Ruhm in ihrem Beruf, das ersehnte Liebesglück aber bleibt immer vage und getrübt. Aus der anfänglichen Scheinehe aus beruflichen Gründen wird später zwar eine Beziehung, aus der sogar eine Tochter hervorgeht, wirkliche Liebe aber wird es nie. Auch die Wunschhochzeit mit dem entfernten Verwandten Maxim kommt nicht zustande. Ob sie wirklich wiedergeliebt wird und glücklich geworden wäre, bleibt zweifelhaft. Der zuletzt erwähnte Ort ist ein nach ihr benannter auf dem Mond, das romantische Symbol der Verschmelzung mit dem All, auf ewig berühmt, zu viel berufliches Glück auf der einen und zu viel unerfüllte Liebessehnsucht auf der anderen.

Es ist dann doch eine insofern typische Erzählung Munros, weil sie die beiden Hauptthemen, die das komplette Werk durchziehen, die Liebe und das Leben hier historisch biographisch fasst und sogar wie eine Anrufung zum Gesamttitel des neuesten Erzählbandes macht. Das Versiegen dieser letzten, titelgebenden Erzählung in immer kürzer werdenden Absätzen ähnelt einem langsamer werdenden Zug, seinen geräuschvoll quietschenden, ausrollenden Rädern, wie ein Herzschlag, der allmählich zum Stillstand kommt.

Weitere Beiträge zu Alice Munro:

Small collection of her free available stories in English

Über die Erzählung “Manche Frauen” aus dem Band “Zu viel Glück”

Alice Munro: Runaway