Im Leerlauf

Vor fast fünfzig Jahren wohnte ich am Rande eines kleinen Dorfes und fuhr mit einer Schülermonatskarte ausgestattet jeden Morgen mit dem Bus zur weiterführenden Schule der fünf Kilometer entfernten Kreisstadt. Es ist merkwürdig, dass mir wie pars pro toto von diesen Fahrten der Blick auf das übergroße Gaspedal unter dem rechten Fuß des Busfahrers als Faszination im Gedächtnis geblieben ist. Der Stadtbus muss still an der letzten Haltestelle seiner Tour gestanden haben und ich saß dem Gas gebenden Bein schräg gegenüber. Vielleicht hatte die Nähmaschine meiner Großmutter schuld, deren Schwungrad ich als Lenkrad missbraucht und deren Fußtrittbrett mir bei zu frühen, spielerischen Fahrversuchen im Vorschulalter als gasgebendes Pedal gedient hatte. Wer weiß, wo unsere Obsessionen ihren Ursprung haben. Nun brummte der Motor jedes Mal, wenn der Fuß des Fahrers sich bewegte, mit einem satten und mächtig tiefen Geräusch auf, das mir soviel größer und unbändiger vorkam, als das kleine Bild, das ich mir selbst in meinem Innern von mir machte. Tatsächlich gab es einen akuten Grund, mich im Moment noch kleiner zu fühlen, als ich mit nicht viel mehr als meinen zehn Jahren ohnehin war. Als ob man im Bauch eines hungrig brüllenden Löwen säße, der doch nichts weiter war als ein raunender im Leerlauf auf die Abfahrt wartender Dieselmotor. Ich erinnere mich jetzt, dass der Fahrer mich sogar eines Morgens einlud, selbst einmal dieses langgestreckte Riesenpedal mit meinem zögerlichen Fuß herunterzudrücken um Gas zu geben. In dem Moment stellte sich so etwas Vertrauliches zwischen mir und diesem fremden Fahrer ein, der eine Mischung aus äußerlich ordnungsgemäßem Oberhemd mit Krawatte und freundlich lockerer Jovialität war. Die vibrierende Pause neben dem Fahrplanschild war zu kurz, als dass er den Motor des stündlich fahrenden Pendelbusses an seiner Endstation abgestellt hätte. Unter meinen Füßen heulte das im Boden oder im Heck versteckte Raubtier umso unkontrollierter auf, war ganz meinem vorsichtigen, aber beherrschenden Willen ausgeliefert, bis ich mich anerkennend bedankend wieder auf der rechten, vorderen Sitzbank niederließ. Als sich der Bus in Bewegung setzte, hatte ich das stolze Gefühl, eine geheime Erfahrung mehr in dieser rätselhaften Welt gemacht zu haben, in der jeden Morgen ehemalige Volksschüler vom Dorf  in die Realschule oder zum Gymnasium gebracht wurden. Mittags nach Schulschluss fuhren sie mit ihm dann zurück in ihre Dörfer.
Wie jeden Tag war ich vorher die kurze, abschüssige Straße “Am Roten Stiege” hinuntergelaufen. Bei diesem Namen frage ich mich heute, ob er ein Resultat etwaiger rot gestrichener Häuser war oder in der Nazizeit hier zu viele missbilligte Sozialdemokraten und Linke wohnten. Aber das frage ich mich heute, damals stieg ich am Ende des Stieges in den Bus und fuhr stumm bis an die Endstation durch, ohne an der Haltestelle in der Nähe der Schule auszusteigen. Das praktizierte ich jetzt schon mehrere Tage so. Meine Angst war jedes Mal zu groß, die Versuchung, einfach in Reglosigkeit zu verharren, auch. Ich konnte jetzt weder in die Schule, noch gleich wieder zurück nach Haus und war dann weiter bis zur Endstation und wieder zurück gefahren. Ich pendelte mehrfach zwischen den zwei Endpunkten der Tour und glaubte, den mich verfolgenden Blick des Fahrers im Nacken, irgendwann müsste das schließlich auffallen. Niemand fährt stundenlang immer die gleiche Strecke mit dem Bus ohne auszusteigen. Deshalb fühlte ich mich bemüßigt, nach den ersten zwei oder drei Stunden irgendwo mitten in der Stadt den Bus doch endlich zu verlassen. Mein schlechtes Gewissen plagte mich fürchterlich und ich wanderte erst einmal unentschlossen durch den Stadtpark, was mich jetzt an “The hunchback in the park” denken lässt, dem ich aber damals weder lesend noch real begegnet bin. Es war Sommer, die Temperaturen angenehm, und es gab Schwäne auf den Teichen, große Wiesenflächen und schlichte, erdfarbene Wege, die sich um all das herumschlängelten. Sogar einen Minigolfplatz, wo mich der Abschlagplatz mit dem hoch in der Luft hängenden Auffangnetz als Ziel für die kleinen, weißen Bälle am meisten faszinierte. Ich fühlte mich innerlich leer, weil nur das, wovor ich Angst hatte sich in mir breit machte und für anderes Denken kein Platz mehr war. Wie in Trance nahm ich einen heruntergefallenen, kurzen Ast und zeichnete damit aneinandergereihte Quadrate auf den Boden. Dann begann ich ziemlich wahllos den Stock in diese verschieden großen Vierecke zu werfen. Wenn ich die Mitte traf ohne eine Linie zu berühren, war ich zufrieden. Ich nannte diesen stumpfsinnigen Zeitvertreib, dieses unsystematische Spiel schlicht Stöckchen-Werfen, eine Abwandlung des Hüpfspiels Himmel und Hölle, wobei ich mich heute der letzteren näher glaube.
In der Nähe des Minigolfplatzes umkreiste ich die Bäume und fand neben verloren gegangenen Bällen auch einen schweren Golfschläger aus Metall, der Griff mit glatten, braunen Plastikstreifen umwickelt. Er vermittelte mir neben dem Spielerischen den Eindruck einer Waffe, als könne man damit jemanden erschlagen oder sich verteidigen. Heute denke ich unwillkürlich an Kubricks Knochen aus der “Space Odyssey”, wie er vom Affen geschleudert in den Himmel segelt und sich in ein Raumschiff verwandelt. Leider brachte diese Metamorphose des in Äonen evolutionär zum immer mehr spezialisierten Werkzeug des Menschen gereifte Skelettteil, außer dem technischen keinen Fortschritt in Richtung Gewaltlosigkeit mit sich, eher das Gegenteil. Ich weiß noch, dass ich den Schläger entwendete und mitnahm, obwohl er zur Einrichtung gehörte. Er landete später vergessen in einer verstaubten Ecke meines Zimmers im Keller, wo ein untergestelltes Klavier an einer Wand stand, aber das ist eine andere Geschichte. Auch in mir brodelte ein unbestimmtes Gefühl, mich gegen die Welt verteidigen zu müssen. Rückblickend hatte diese Welt damals natürlich etwas Sonniges, weil die Zukunft so unbestimmt und offen vor einem lag. Jetzt aber lief ich im Modus der Unbestimmtheit und Unentschlossenheit durch den Park. Mein nutzloses Verschwenden von Zeit war die Reaktion auf jene diffuse Ängstlichkeit, die durch meine Gedanken kroch. Mein Vater hätte damals gesagt, ich würde vor mich hin gammeln. Der Gammler, und jeder mit auch nur ansatzweise langen Haaren gehörte ungefragt zu dieser Gruppe, war ein Synonym für unangepasste, kritische und irgendwie spinnende Jugendliche schlechthin, zu denen ich mich auch selbst glaubte zählen zu dürfen. Neben dem Minigolfplatz erstreckte sich eine leicht hügelige Wiese, auf der sich manchmal nach der Schule oder in Freistunden Gruppen von Jungen oder Mädchen niederließen. Man genoss Freizeit und Sonnenstrahlen, trank manchmal billigen Wein und alberte ausgelassen im Gras sitzend herum. Ich gehörte nicht dazu, war entweder zu jung oder einfach zu pubertär schüchtern. Ich machte einen Bogen um solche Gruppen, denn Zugehörigkeit und Feiern waren keine Beschäftigung für Außenseiter. Als solcher fühlte ich mich auch gegenüber meinen eigenen Klassenkameraden. An Freunde kann ich mich kaum erinnern. Hinter dem mit Eisen beschlagenen, schweren, gotisch anmutenden, riesigen und dicken Holz der Eingangstür zum Gymnasium herrschte Konkurrenzdenken und der allgemeine Druck der Lehrer. Man rannte aus diesen Anstalten heraus, als hätte man für eine gewisse Zeit in einem Gefängnis gesessen.
Glauben Sie nicht, dass ich mir der Belanglosigkeit des Erzählten nicht bewusst wäre, aber die Erinnerung fragt nicht danach, welchen Platz des Gedächtnisses sie gerade beleuchtet. Das Gedächtnis ist ein schwankender, unzuverlässiger Scheinwerfer. Ich sehe mich zu jener Zeit im Unterricht sitzen. In den humanistischen Fächern wie Deutsch, Englisch und Französisch oder Geschichte stehen die Bänke hintereinander oder später in einem Viereck sich gegenüber. Die Naturwissenschaften Physik, Chemie oder etwa Biologie fanden wegen diverser Experimente in ansteigenden Bankreihen und größeren Sälen statt. Sie machten auch aufgrund der räumlichen Distanz zum jeweiligen Lehrer die Atmosphäre selbst sachlich und unnahbarer. Hier verhandelte man nicht was unumstößliche Realität sein sollte, sondern erklärte sie als gegeben. Die Strenge der Naturgesetze übertrug sich auf die Art des Unterrichts und der Druck, diesen Festlegungen womöglich nicht genügen zu können, steigerte sich in mir zu einer diffusen Angst. Es war schlicht die Hürde einer angesetzten Biologiearbeit, auf die ich völlig unvorbereitet war, die mich beinahe vierzehn Tage dem Unterricht fern bleiben ließ. Eine frühe Existenzkrise, die sich durch einen blauen Brief und den anschließenden Besuch des Klassenlehrers bei meinem Vater, ungewollt auflöste. Als ich schließlich wieder zum Unterricht erschien, fehlte einer der Mitschüler und ich erfuhr von seinem Tod und seiner Beerdigung nach einer plötzlichen Krankheit. Ich war nicht mit ihm befreundet und doch fühlte ich mich schuldig, nicht da gewesen zu sein. Das Schuldgefühl resultierte aus keinem Fehler, sondern aus der  Tatsache, sich etwas Unangenehmen nicht gestellt zu haben. Im Grunde war es die Feigheit, die auf einem weiter lastete. So verbindet sich im Scheinwerfer meiner Erinnerung mein Schulschwänzen mit einem frühen, sinnlosen Tod. Niemand weiß, warum die Kirchglocken für den einen schlagen und ein anderer leer ausgeht.
Mittags war ich jeden Tag völlig harmlos zur üblichen Stunde endlich nach Hause gekommen und auf die Frage, wie es in der Schule gewesen sei, antwortete ich unauffällig: “Wie immer…” In diesen zwei Wochen hatte ich logischerweise wenig Schulaufgaben zu erledigen und die Nachmittage gehörten mir und den Spielen mit den Nachbarskindern. Die Großmutter brachte das Mettwurstbrot an den Zaun und niemand ahnte etwas von meinen vormittäglichen Leerläufen. An ein anderes Ereignis erinnere ich mich ebenfalls. Es war Spätsommer und das Getreide wurde auf den Feldern neben dem Haus meiner Eltern geerntet, das im Vorgarten ein Rosenbeet mit meist viel zu früh flatterig werdenden Blüten hatte. Dieses Bild bringt mich auf den Gedanken an eine Katze, eben Röschen mit Namen. Sie hatte die Angewohnheit in diesem Beet zu sitzen, dass ihr vermutlich auch den Namen gab. Doch am Schluss sehe ich sie mit drei Beinen darin Schutz suchen, denn ein Mähdrescher hatte ihr in einem Kornfeld ein Bein vollständig abgetrennt. Das dreibeinige Röschen lebte unter unseren mitleidigen Blicken noch eine ganze Zeit lang weiter. Wie kümmerlich sind doch unsere Erinnerungen gegenüber dem großen Schlaf und der alles zudeckenden Zeit.