Der schöne Tod

Friedrich

Der Tag hatte wie jeder gewöhnliche Sommertag begonnen. Trockenes Wetter, gepaart mit hellem Licht und warmer Luft, sorgte für eine ausgeglichene Stimmung. In ebendieser war Friedrich zu einem Rundgang durch das Dorf aufgebrochen, von dem er gerade wieder zurückkam. Er war die Treppe zur separaten Wohnung im zweiten Stock des gemeinsam mit seinem Sohn und dessen Familie bewohnten Doppelhauses hinaufgegangen, und bewegte sich auf den in der Küche im Obergeschoß neben dem Herd stehenden Stuhl zu, um sich die Schuhe auszuziehen. Mittlerweile neunundachtzig Jahre alt, genauso alt wie das zwanzigste Jahrhundert, fühlte er sich immer noch rüstig. Gut zu Fuß hatte er sich gleich am Vormittag auf den Weg zum Hausarzt gemacht, der ihm seine Medikamente verschreiben sollte. Er selbst nannte sie in seiner ureigenen Art “Munition”. Die hatte es in den beiden Weltkriegen, die er überlebt hatte, sicher genug gegeben. Wie individuell sein persönliches Schicksal aber auch gewesen sein mochte, es war nur ein winziger Bestandteil einer Zeit, eines Weltgeschehens, das über ihn hinweggezogen war, wie ein unbeeinflussbares Gewitter.

Auf dem Rückweg hatte er wegen einer kleinen Besorgung im letzten Kaufmannsladen des Dorfes halt gemacht, um auch da Nachschub in Sachen Kautabak zu besorgen. Jeder begegnete ihm mit einem freundlichen Gruß und ab und zu war er sogar zu einem kleinen Plausch stehengeblieben. Manchmal erzählte er dann einen Schwank aus seiner Jugendzeit oder ein flüchtig Bekannter fragte ihn kurz: “Na, Fritze, wat macht die Kunst?” und er hatte geantwortet: “Wat kümmt, dat kümmt…” Sein Humor strahlte Fröhlichkeit aus, die wiederum seinen natürlichen Fatalismus unterstrich, der besagte, dass man das Leben nahm, wie es kam. Es war nichts, worüber man nachdenken musste, man lebte es einfach. Groß gewachsen, von kräftiger Statur, bereitete ihm auch jetzt ein solcher Spaziergang noch keinerlei Schwierigkeiten. Eine Krankheit war für ihn nichts als eine lästige, bedeutungslose Fliege, die man verscheuchen musste. Er setzte sich hin, warf einen Blick durch die Scheiben der beiden großen Fenster auf die am Horizont bewaldete Bergkette, und kramte dabei in seiner Hosentasche nach dem winzigen, silbrigen Döschen, unter dessen Deckel immer eine Stange schwarzer Priem steckte. Als er es gefunden hatte und seine Finger sich tastend darum schlossen, zuckte bei dieser Berührung eine alte Erinnerung in ihm auf. In jungen Jahren hatte er mit einer ähnlichen Bewegung seine goldene Taschenuhr aus der Weste gezogen. Das lag weit zurück, eine völlig andere Zeit mit Eltern und Geschwistern. Inzwischen war er selbst Großvater und sein Sohn und seine Tochter hatten ihm drei Enkel beschert. Seine Frau Gustavine oder auch kurz Vinchen genannt, war vor sieben Jahren verstorben. Mit ihr hatte er noch überwiegend Plattdeutsch gesprochen, vor allem wenn sie allein waren. Früher durchaus als Schürzenjäger bekannt, schloss er auch als Witwer noch einmal die Bekanntschaft mit einer ebenfalls alleinstehenden, älteren Dame weiter unten im Dorf. Dieses Dorf, das sich um eine evangelische Kirche und den davor gelegenen Thingplatz angesiedelt hatte, war durchaus nichts Besonderes. Ein Sportplatz, eine Volksschule, ein paar kleine und auch größere Bauernhöfe, eine Schuhfabrik und das dazugehörige Ledigenheim für die weniger werdenden Gastarbeiter. Nach dreißig Jahren waren ihm sowohl das Dorf als auch das Haus aus den fünfziger Jahren wie ein lang getragenes Kleidungsstück zur bekannten und bequemen Gewohnheit geworden. Die Holztreppe knarrte an immer gleicher Stelle und die mit einem gelbstichigen, undurchsichtigen Glas versehene Korridortür tat es ihr nach. Auch Häuser waren nur Hüllen auf Zeit und warteten irgendwann auf neue Gäste, die es sich in ihnen gemütlich machten. Vom Typus her hätte man bei Friedrich jetzt im hohen Alter auch von einer knorrigen Eiche sprechen können, da seine Bewegungen mittlerweile bedächtiger und hölzern geworden waren. Dennoch strahlte er eine unerschütterliche gute Laune und eine urwüchsige Umgänglichkeit aus. Besonders die Bauern kannten Friedrich, hatte er doch in den ersten zwei Jahrzehnten seines Berufslebens selbst auf einem Hof gearbeitet und später immer noch kleinere, gepachtete Felder bewirtschaftet. Später hatte es ihn zur Deutschen Bahn verschlagen und er überwachte mehr als zwei Jahrzehnte lang große Dampfkesselanlagen. Er erinnerte sich an den Präsentkorb zum 25jährigen Dienstjubiläum, was auch schon sehr lang her war, und so schaute er jetzt über die leicht ansteigenden Felder hinweg, der gewundenen Kirschbaumallee nach, die sich im Grün der Bergkette verlor, als läge dahinter sein vergangenes Leben.

Bilder schossen kreuz und quer durch seinen Kopf und verschwanden genauso schnell, wie sie gekommen waren. Er hatte kurz nach der Jahrhundertwende, Ende April des Jahres 1900, das Licht der Welt erblickt, was später die Frage bei Geburtstagen, wie alt er denn geworden sei, sehr vereinfachte. Als jüngstes, drittes Kind war er nun endlich ein Junge neben seinen beiden etwas älteren Schwestern Emma und Ella geworden. Wie die meisten Eltern waren auch Gustav und seine verstorbene Frau bei der Namensgebung von Emma und Ella einem Hang zur Vereinheitlichung gefolgt, als ob auch Blutsbande eine verstärkende Bindung durch zeichenhafte Symbolik benötigten. Seine Mutter aber hatte die Geburt mit ihrem Tod bezahlt. Sie war im Kindbett gestorben, wie es so häufig in der damaligen Zeit passierte. Vielleicht war sein lebenslanger Humor die einzige Art gewesen, dieses frühe Schicksal zu verdrängen. Er dachte an die Zeit, als die Familie, sein Vater Gustav, seine Stiefmutter Henriette, seine beiden Schwestern und er, damals ein kleines Haus am Rand eines anderen Dorfes zwischen Göttingen und Uslar in der weiteren Umgebung des Sollings bewohnt hatten. Sie waren einfache Leute gewesen, auf einem Gutshof angestellt als Knechte oder Gespannführer. Sie misteten Schweineställe aus, versorgten die meist schweren Ackergäule, ölten die Fuhrwerke, verzogen Rüben auf den Feldern oder rodeten Kartoffeln. Nur an Sonn- oder besonderen Feiertagen ging man in die gute Stube des langgestreckten Fachwerkhauses, dessen Decken ziemlich tief hingen. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, unter dem Verlust seiner Mutter zu leiden, denn er kannte es nicht anders, als von Tanten großgezogen zu werden. Als sein Vater sich einige Jahre nach seiner Geburt mit dem Gedanken trug, wieder zu heiraten, musste er allerdings die Erfahrung machen, dass Tanten doch angenehmer gewesen waren als die neue Stiefmutter. Sie war bigott und streng zu seinen Schwestern, aber ihn konnte sie am wenigsten leiden, und traktierte ihn mit Verboten und anhaltender ungerechter Behandlung.

Jetzt stieg ihm das Bild vor Augen, als sich die ganze Familie anlässlich seiner Konfirmation vor dem Grundstück versammelt hatte, um ein Erinnerungsfoto machen zu lassen. Er hatte im Mittelpunkt neben seinen beiden unverheirateten und selbstverständlich in Weiß gekleideten Schwestern gestanden. Alle drei und vor allem er waren herausgeputzt in ihrem Sonntagsstaat erschienen. Er wusste noch, dass rechts neben ihm Emma verdrießlich und verärgert in ihren dunklen Schuhen gestanden hatte, weil keine weißen zu finden gewesen waren. Dafür trug sie eine Kette mit Anhänger und Stein und die Ärmel ihrer Bluse hatten im Gegensatz zu den Rüschen ihrer Schwester sogar kleine weiße Bommeln. Ella war die älteste, trug nur eine Brosche an der Bluse und wirkte mit ihren runden Gesichtszügen und einer bereits ausgeprägten, üppigeren Figur schon fast erwachsen. Es musste zu Anfang des ersten Weltkrieges gewesen sein, für den Friedrich noch zu jung war, dass sie der Fotograf zu dieser feierlichen, symmetrischen Positionierung dirigiert hatte. Ein schwarzes, gleichschenkliges Dreieck in der Mitte, zwei einfache Holzstühle im Wiener Caféhausstil  mit dem sitzenden Elternpaar vorn, auf die sich die weißen Schwestern mit jeweils einem Arm als seitliche Geraden stützten. Alle hatten ihren Mund geschlossen, als ob sie den Atem anhielten, alle blickten wie hypnotisiert in das Auge des fotographischen Apparates. Die Stehenden ließen den beiden vor ihnen Sitzenden genug Raum, um auch zur Geltung zu kommen. Die Eltern hatten verschämt die Hände in den Schoß gelegt und sich den Anweisungen des Fotografen erwartungsvoll gefügt. Gustavs klobige Arbeitsschuhe passten zu seinem rustikalen Gesamteindruck. Das blonde Haar schon stark gelichtet mit einem melancholischen Blick, sah er mehr nach einem schwer arbeitenden Bauern, als nach einem Dorfschullehrer aus. Seine Hände zeugten von zupackender, harter Arbeit, während die seiner zweiten Frau fest ineinandergriffen und mit einer beherrschten, gewollten Friedfertigkeit in ihrem Rockschoß ruhten. Überhaupt machte Gustav damals schon einen vom schweren, bäuerlichen Landleben verhärmten Eindruck. Seine gekreuzten Beine leicht verkrampft, die Hände unsicher auf sie gelegt, wirkten Körperhaltung und Blick, als müsse er sich für irgendetwas entschuldigen. Für ein nicht vorhandenes Vermögen, die Enge ihres Dorflebens oder möglicherweise die Zweckehe mit seiner zweiten Frau Henriette. Sie trug einen sehr strengen Mittelscheitel und das Haar glatt zu den Seiten nach hinten gezogen. Damals war von ihr eine bigotte Unruhe ausgegangen oder kam ihm alles durch die Zeit entrückt vor und der Tunnelblick in die Vergangenheit trübte seine Gedanken? Im Moment lag das alte Foto bestimmt in irgendeiner Truhe, womöglich auf dem Dachboden. Es hatte einmal neben einem alten Garderobenspiegel aus Eichenholz mit seitlich gedrechselten Säulen gehangen, aber seine schwarze, düstere Ausstrahlung trotz feierlichem Anlass, passte nicht in eine moderne Wohnung und war schließlich abgenommen und verbannt worden. Friedrich machte sich ohnehin nichts aus Fotos, als ob er tief im Innern spüren würde, dass die Konservierung von Augenblicken mit dem gelebten Leben wenig zu tun hatte. Am Ende löste sich alles in mehr oder weniger wahre Geschichten auf, deren erzählerisches Kontinuum jeder auf seine Weise neu erschuf. Auf fremde Besucher hatte das Foto später bedrückend gewirkt, weil sie nicht einmal die Namen der dargestellten Personen kannten. Das unbenannte Fremde macht keinen vertrauten Eindruck und was sich der Sprache entzieht, das sogenannte Numinose, verbreitet Angst.

Friedrich war mittlerweile doppelt so alt wie sein vor ihm sitzender Vater auf dem Foto. Jetzt war er es, der auf einem Stuhl saß. Wir drei damals könnten heute meinen drei Enkelkindern entsprechen, das Leben erscheint wie Kreislauf und Wiederholung. Er rief sich die Stimmung des Fotos wieder ins Gedächtnis, aber ihm fiel nichts anderes ein, als dass die Sonne sicher genauso aufgegangen war, wie an diesem Morgen und wie sie es immer tun würde. Nur im düsteren  Licht der alten Fotografie war wenig davon hängengeblieben. Das Licht entsprang allein dem marienhaften, unschuldigen Weiß seiner Schwestern. Er dachte wieder an seine goldene Taschenuhr, die er an einer Kette in der Westentasche getragen hatte. Irgendwann war sie einfach verschwunden, wie die erlebte Zeit selbst. Seine weißen Schwestern mit ihren pausbäckig, runden Gesichtszügen hatten später geheiratet. Emma einen jungen Bauern mit eigenem Hof, in dessen Stallungen sie tagein tagaus für Ordnung sorgten, sich äußerlich immer ähnlicher wurden, bis es nicht mehr ging und der einzige Sohn übernehmen musste. Die schwere Arbeit hatte sie zu einem ununterscheidbaren Paar zusammengeschmiedet. Beide waren längst gestorben, ihr Mann Heinrich noch vor ihr. Auch Ella hatte er spätestens nach ihrer Heirat und als sie wegzog aus den Augen verloren. Nach ihrem Tod hatte er so gut wie gar nicht mehr an seine Schwestern gedacht. Warum er sich ausgerechnet jetzt an dieses alte Foto erinnerte? Es war ihm immer aufgefallen, wie sehr seine Nase der seines Vaters geglichen hatte, ein ziemlicher Zinken. An der Ecke des Grundstückes, auf dem das  Elternhaus stand, hatten sie sich zusammengefunden, gleich neben der Gartenpforte. Ein recht hoher Staketenzaun umschloss das Grundstück. Seine Latten bildeten den Hintergrund, vor dem sie sich zu dem typischen Familiengruppenbild jener Zeit ähnlich symmetrisch aneinandergereiht hatten wie diese.

Nicht nur die Nase, auch die großen Füße seines Vaters hatte er geerbt, Schuhgröße 45. Es war gar nicht mehr so einfach, sich zu den schwarzen Stiefeln hinunter zu beugen, um die Schnürsenkel zu öffnen. Friedrich trug große, schwarze Stiefel, deren Schäfte bis über die Fußknöchel reichten, was den Betrachtern neben dem ersten Eindruck von Grobschlächtigkeit auch zutreffend seine Bodenständigkeit im allgemeinen vermittelte. Während er Kopf und Oberkörper etwas schwerfällig nach unten bewegte, hörte er wie vom Hof vor dem Haus die Stimmen seines Sohnes, dessen Frau und seines Enkels schwach durch das auf Kipp gestellte Küchenfenster empor drangen. Sie saßen in der warmen Mittagssonne auf weißen Plastikstühlen um den runden Tisch herum und plauderten vor kühlen Gläsern in den Tag hinein. Als seine Arme noch weiter hinuntergriffen, zog ein Schatten über seine Augen hinweg, als ob eine Gewitterwolke das Tageslicht überraschend verdunkelte. Es war wie kurz vor dem Einschlafen, wenn die Welt sich zu einem watteförmigen Grau wandelte. An den Augenblick des Wegkippens, an das Verlieren des Bewusstseins, wenn die Welt ging und der Schlaf kam, konnte man sich später ohnehin nie erinnern. So ging es auch ihm. Er sackte in sich zusammen, blieb aber merkwürdigerweise vornübergebeugt auf dem Stuhl hängen. Es dauerte etwa eine Stunde, bis sein Sohn ihn zum Nachmittagskaffee holen wollte, weil sie sich alle wunderten, wo der Großvater blieb. Kuchen war immer ein unwiderstehliches Lockmittel für Friedrich gewesen. Er konnte ganze Zuckerkuchenplatten mit seinem Enkel um die Wette vertilgen. Als sein Sohn den massigen, leblosen Körper zusammengekauert vorfand, sprach er ihn an und rüttelte an seiner Schulter, aber es kam keinerlei Reaktion mehr. Er fasste seinen Vater unter die Arme und schleifte ihn ins Schlafzimmer, um ihn aufs Bett zu legen. Dann telefonierte er mit dem Hausarzt und dachte unpassender Weise daran, dass sein Vater immer viel zu laut in diesen für ihn immer noch ungewöhnlichen Sprechapparat geschrien hatte, als ob er die geschätzte Entfernung zwischen den Gesprächsteilnehmern bei der Lautstärke mit berücksichtigen musste. Der Hausarzt, bei dem Friedrich noch am Mittag gewesen war, kam etwa eine halbe Stunde später, aber auch er konnte nur noch seinen Tod feststellen. Im Totenschein hielt man den plötzlichen Verschluss der Blutgefäße im Gehirn mit dem geläufigen Wort Schlaganfall fest. Zur Beerdigung kamen mehr Dorfbewohner als erwartet. Er selbst hatte schon für seine Frau auf einen großen Grabstein bestanden und so war daneben jetzt genug Platz für seinen eigenen Namen.

Wenn Bilder in der Erinnerung langsam verblassen, bleiben manchmal nur Redewendungen oder Worte von jemandem übrig. Mit seiner tiefen, sonoren, aber auch weichen Stimme, die etwas von naiver Kindlichkeit und Ruhe in sich trug, hatte Friedrich im Brustton unerschütterlicher Überzeugung immer den Satz zu seinem Enkel wiederholt, dem er dessen erstes Auto mitfinanziert hatte: “Achtzig ist auch genug!” Mit ihm starb auch diese Überzeugung von einer beruhigenden, langsamen Sicherheit. Die Welt hatte nicht nur ihn verloren, sondern würde ohne Zweifel von nun an immer nur schneller werden. Der Tod eines einzelnen Menschen bedeutet nicht nur sein individuelles physisches Ende, sondern selbstverständlich stirbt mit ihm auch ein Charakteristikum jener Zeit, der Kultur jener Epoche, in der er gelebt hat. An das Verlaufen der Zeit als ganz normalen Vorgang haben wir uns gewöhnt, aber erst der unersetzliche Verlust eines Lebens wird zum schmerzvollen Gradmesser ihres wirklichen Vergehens. Vor allem aber wurde Friedrichs Tod zum Inbegriff der sanften Erlösung und ein bleibender Wunsch für alle, die ihn noch vor sich hatten.

 Biedermeierstuhl