Max Frisch: Montauk. Eine Erzählung

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Nun ist sie ausgelesen, die Erzählung “Montauk” von Max Frisch. Texte liest man zu Ende, fertig wird man mit den guten nie. Sie endet mit dem Bild eines Abschieds. Das ungleiche Paar, der über sechzig Jahre alte Schriftsteller und seine “frische” neue Geliebte von Anfang Dreißig verlieren sich sich mit einer gewollten Leichtigkeit im Verkehr einer amerikanischen Stadt, genauer gesagt: New York. Die Gestalt der jungen Verlagsangestellten, die ihn während seines Aufenthaltes nun doch nicht nur literarisch betreute, verblasst in der Erinnerung des gealterten Schriftstellers Max, der gleichzeitig schon an den Tod denkt. Wenn man in den Spiegel sieht wie in eine Tischglasplatte, in der sich weiße Wolken spiegeln, glaubt man das eigene Gesicht zu sehen, aber eigentlich blickt man gleichzeitig auch in den Abgrund der eigenen Vergangenheit, in der das Ich seine jeweils andere Rolle spielte. Das Altern ist eine kaum bemerkte, fließende Verwandlung.

Dagegen will er die Gegenwart als gelebten Moment in Worte meißeln, vielleicht aufgrund seines früheren Brotberufes, der Architektur, auch mehr mit flinken Strichen zeichnen. Irgendetwas muss doch dem Vergessen standhalten. Aber er ist viel zu selbstkritisch, um nicht zu wissen, dass auf dieser Welt nichts von Ewigkeit ist. Diese nur einige Tage, ein Wochenende, dauernde Beziehung soll stenogrammartig und autobiographisch festgehalten werden. In leichten skizzenförmigen Absätzen fehlt dem Text auch das, was dem Verhältnis der beiden fehlt, die Schwere einer langjährigen Verletzbarkeit oder einer institutionalisierten, bürgerlichen Form der Beziehung, der Ehe.

Der Wunsch, dass etwas von der Liebe überlebt, selbst wenn die Liebenden gestorben sein sollten, findet sich in den Binnenerzählungen über die Ehen und Liebesverhältnisse zu allen Frauen des Erzählers. Wie Dylan Thomas es in seinem Gedicht “And death shall have no dominion” ausdrückte: “Though lovers be lost love shall not”.

Es ist merkwürdig, fast vierzig Jahre nach dem Wochenende in Montauk dieses Lebensstenogramm eines Schweizer Schriftstellers aus den siebziger Jahren in Händen zu halten. So erinnerte mich der Schluss dieser Erzählung an den wunderbaren Beginn von Raymond Federmans “Smiles on Washington Square”. Die Leichtigkeit des Ungewollten und doch Unvermeidbaren charakterisiert den Beginn und das Ende beider Erzähltexte. Dort beginnt die Liebesgeschichte der beiden möglichen Liebenden mit einer zufälligen Begegnung im Regen, hier endet sie (vorläufig) im Verkehr der Großstadt. Das weist auf die Vereinzelung des Individuums in den Massen auf den Straßen und Plätzen zurück, die sich schon in den Gedichten Baudelaires findet. Der Rückbezug auf Federman findet nur in meinem Kopf statt, außer dass sie beide mit “F” beginnen haben die Autoren vermutlich nicht voneinander gewusst. Der gemeinsame Schauplatz löst die Assoziationskette aus und letztlich eine Art Vergeblichkeit, die in jeder Liebe steckt, ob sie nun beginnt oder endet. In gewisser Weise ist die gesamte Erzählung natürlich auch eine Lebensabrechnung mit sich selbst. Mit Anfang sechzig lauert das Alter und der vorausgesehene Tod. Frisch aber fehlt jede Larmoyanz, er strukturiert die Erzählung sprachlich und inhaltlich wie ein Architekt und der Blick auf sich selbst geht nicht zu tief in das eigene Fleisch. Das um Authentizität bemühte schriftstellerische Ich blickt aus der Er-Erzählposition eher kühl auf sich zurück. Er protokolliert mit schweizerischer Genauigkeit. Schonungslos wird er in der Analyse seiner vielen Frauenbeziehungen nicht, aber sich mit ihnen wohlgefällig zu brüsten liegt ihm genauso fern. Der “male chauvinist” gehört der Generation meiner Großeltern an. Das ewige Unverständnis der Geschlechter wird in keiner Generation von großem Fortschritt gekennzeichnet, nur das jeweilige weibliche und männliche Rollenverständnis scheint sich immer mal wieder zu verändern. Seine Einsicht, sein Defizit den Frauen gegenüber, emanzipiert die eigene Psyche nicht automatisch von den Prägungen der immer einmaligen Sozialisation innerhalb jeder Generation.

Montauk birgt hier die Gefahr, den Protagonisten der Erzählung mit Max Frisch gleichzusetzen und ihm die Rolle eines “Schweizer Lebemannes” vorzuwerfen, der die Frauen zwar liebte, aber sie nur als Werkzeug zum eigenen Glück mit einer chauvinistischen Grundhaltung quasi ständig missverstand. Ein wenig schmeckt die Geschichte mit der jungen Verlagsangestellten danach, als könne sie sich der “Großschriftsteller” eben mal als Seitensprung leisten. Aber das ist nicht die Geschichte, die erzählt wird. Lesarten eines Textes gibt es immer so viele, wie es Leser dieses Textes gibt. Die Reduzierung des Textes auf ein Destillat dessen, was von Max Frischs Biographie bekannt ist, unterschlägt den meiner Meinung eigentlichen Schreibimpuls, die eigene Geschichte in der literarischen Konstruktion aufzuheben, dem Erlebten einen versöhnlichen Standpunkt abzuringen und im Protokoll den Augenblick aus der normalen Wahrnehmung herauszunehmen. Die Literatur drückt eine Wahrnehmung der Welt aus, die man im Leben selbst nie finden wird. Schriftsteller sehen die Welt mit anderen Augen. Ihre Wahrnehmung ist in jedem Augenblick interessanter und allgemeingültiger, je besser ihnen die Umsetzung in literarische Fiktion gelingt.

Montauk ist ein erzählerisches Experiment, in dem Frisch den Stil aus seinen Tagebüchern weiterentwickelte und mit dem Text abklopfte, ob damit nicht “normale” Prosa machbar wäre. Max Frisch nähert sich dem eigenen Leben oder seinem Lebenssinn auf diese Weise nicht um abzurechnen oder zu beichten, sondern sein Leben als Matritze oder Schablone für eine Literatur zu nehmen, die mehr vom Leben festhalten kann, als was von uns Normalbürgern bleibt: eine Todesanzeige oder ein tabellarischer Lebenslauf. Er erzählt mit rein autobiographischen Mitteln einen fiktiven Text. Er sehnt sich nach dem gelebten Augenblick, in dem man schwerelos mit hochgekrempelten Hosenbeinen in der Uferbrandung steht, die Gegenwart genießt und kein Beziehungsgepäck mehr auf dem Rücken trägt. Der Schriftsteller als Architekt baut aus diesem einzigen Augenblick sein erzählerisches Konstrukt. Textversatzstücke schieben sich wie die Mauerreste der Villa in Berzona am Ende an die richtige Stelle. Was bleibt ist ein Stück Literatur, das jeder auf seine Art immer wieder neu begehen kann.

30 Jahre nach dem Wochenende 1974 sind die heute auch über sechzigjährige Alice Locke-Carey und der Journalist Volker Weidermann erneut an den Schauplatz gereist. (F.A.Z. 2010) Aber so wie Max Frisch mit seinem “Damn!” begriff, dass die schon am Anfang im Montaigne-Zitat eher ironisierend angesprochene Aufrichtigkeit und Wahrheit nicht mit der Sprache allein festgehalten werden kann, so musste auch das reale Vorbild der Lynn einsehen, dass man die Vergangenheit an Orten nicht wieder einholen kann. Autobiographie ist ein Spiel, ernste Bekenntnisse scheitern seit Rousseau an der noch so gut gemeinten Einstellung zur Wahrheit, die immer subjektiv bleibt. Der einzige Ort, wo man die Geschichte eben vorfindet, ist der Text selbst. Schriftsteller leben in ihren Texten, nicht an den Aufenthaltsorten ihres Lebens. Zum Jubiläum gräbt man auch neue alte Geliebte aus (Spiegel 2011) und wird vermutlich noch den letzten Briefwechsel plündern, um an biographische Details zu gelangen. Mich öden diese nachträglichen Pseudoskandale eher an. Marcel Proust ein Homosexueller, Max Frisch ein chauvinistischer Frauenheld. All das trägt zum Verständnis der schriftstellerischen Arbeit wenig bei.

Max Frisch gehört mit Dürrenmatt sicher zur etablierten Schullektüre der Schweiz. Den Romanen und Theaterstücken wird man die mittlerweile fünfzig Jahre und mehr nach ihrer Entstehung anmerken. Die Romane wirken heute bürgerlicher, haben etwas von einer innovativen Kraft verloren. Kalter Krieg und sozialdemokratisches Selbstverständnis gibt es nicht mehr oder haben sich schwer verändert. Aber der Kampf mit dem eigenen Ich, der Identität und der Authentizität, sich selbst verstehen zu wollen, das meinte Reich-Ranicki wohl mit dem Bleiben von Montauk. Ein Revolutionär des Schreibens ist er nie gewesen, aber ein verzweifelter, um Dokumentation und anschließende Fiktionalisierung bemühter Chronist des eigenen Ichs.
Ich wünsche Max Frisch im Jahr seines hundertsten Geburtstages vor allem neue Leser, denn einen Schriftsteller findet man in seinem Werk und nicht in der schmutzigen Wäsche seines Lebens.

Weitere Links zum Buch:

Seite des Schweizer Radio und Fernsehens mit einer Hörspielfassung von “Montauk” u.v.m.
Tagesanzeiger “Der Max Frisch der späten Jahre” mit einem Foto von “Max und Lynn”
Leseprojekt “Montauk” im Blog “Wiederworte”
Nachwort von Volker Hage Spiegel Edition
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Rezension über die Entwürfe zu Frischs drittem Tagebuch von 1982 (2010)
Vorstellung von fünf neuen Frisch-Biographien
Artikel über die Entwürfe zum dritten Tagebuch bei Wikipedia
Volker Hage: “Feige war er nie” über die Geliebte Karin Pilliod
Rezension von Dieter Wunderlich
Hellmuth Karasek 1975 im Spiegel