Julio Cortàzar: Rayuela II
Leseeindrücke, Kapitel 2 und 116 und (21)
Dieses “Himmel und Hölle-Spiel” lädt dazu ein, von jedem der es liest, neu erfunden zu werden. So bin ich nun von einer Frau verführt (früher soll das ja eher ein Spiel für Mädchen gewesen sein), kurz in das 21. Kapitel gehüpft, habe mich also vom vorgeschlagenen Weg des Autors befreit. Und warum gerade ins 21zigste? Das ist kaum zu glauben, aber wie ein berühmter Franzose in einem seiner Gedichte bemerkte “Paris change!”, so verändert sich in diesen Tagen eine andere Stadt in Deutschland und wie der Zufall es so will, wohnt diese noch dazu auch Rayuela lesende Frau in der Nähe von Stuttgart und da geht es auch gerade um S21 und Bauwerke, die in diesem unserem Jahrhundert abgerissen werden sollen.
Oliveira sitzt im Paris der Fünfziger Jahre in einem Café und beim Anblick von Jugendlichen sieht er sich mit deren Spontanität und Authentizität konfrontiert, die er verloren zu haben glaubt. Er liest in einem alten Buch von 1929, während jene einfach nur leben. Das Altersempfinden ist aber nur ein Symptom für das Abgeschnittensein des intellektuell Reflektierenden, der fortwährend zwanghaft über die Vergangenheit und über die Zukunft denken Müssende, der die gelebte Gegenwart damit zerstört und als unzulänglich gelebt empfindet. Die Ausflüge in die Welt der Philosophie oder der Malerei begreift er nur noch als Vorwurf gegen sich selbst, den eigentlichen Augenblick nicht mehr leben zu können. Der berühmte Franzose von eben nennt das:
„Tout pour moi devient allégorie.“
Die Maga, die Magierin des Augenblicks, beherrscht dagegen das authentische Augenblicksleben wie mit weiblicher Intuition. Im Weiblichen sieht Oliveira am Ende des Kapitels den fruchtbaren Boden, die schwarze Mutter Erde, die jedem Augenblick Leben spendet. Soviel zu (21).
In Kapitel 2 beschreibt sich Oliveira weiter als einen gerade aus Südamerika Eingetroffenen, der in seiner Unbeholfenheit mit seiner Geliebten in einem gewissen Chaos lebt. Die weibliche Unordnung in einer Handtasche wird dem entgegengesetzt, die aber in Wahrheit keine ist. Der weibliche Körper wird zwar einerseits als Mysterium der Ewigkeit empfunden, gleichzeitig aber wird die Liebe auch als etwas technisch Leidenschaftsloses beschrieben:
“Wir waren nicht verliebt, wir praktizierten die Liebe mit einer virtuosen und kritischen Leidenschaftslosigkeit, aber danach fielen wir in ein schreckliches Schweigen, und der Schaum auf den Biergläsern wurde wie Putzwolle, wurde schal und zog sich zusammen…”
Das 21. Kapitel klingt schon hier im 2. an:
“daß es mich wie immer viel weniger kostete, zu denken als zu sein…”
Das ganze Kapitel erscheint mir wie ein Stakkato der Befindlichkeit. Eine Verunsicherung, die eine Mitte sucht, wie der Panther im Gedicht Rilkes, die aber unauffindbar bleibt. Neue Figuren oder Personen werden eingeführt, die wichtigste: Rocamadour, das Kind der Maga, dem der Erzähler gegenüber sich irgendwie schuldig zu fühlen scheint. Ich werde hier nicht versuchen, die Handlung des Romans nachzuerzählen, schon Borges bemerkte, dass von der Prosa Cortàzars das Wesentliche, ihre Poesie, bei der bloßen Wiedergabe des Plots verloren ginge.
Korrigieren muss ich mich auch schon, was die “neue Übersetzung” angeht, es gibt gar keine. Es ist die alte von Fritz Rudolf Fries und nur das diesem zum 75. Geburtstag gewidmete ausgezeichnete Nachwort Christian Hansens ist neu. Man kann sich also auch ältere Ausgaben besorgen.
Die Malerei (Klee und Míro) und die Musik (Schubert, Bach, Blues, Cool Jazz und “Porgy und Bess”) beginnen ihre atmosphärischen Spuren zu hinterlassen. Freunde eines “Schlangenclubs” werden genannt und der Hüpfsprung in das 116. Kapitel führt den Leser in die eher parallel ablaufende Welt des Schriftstellers Morelli, der in einer Art Arbeitsbuch über seine Theorien des Erzählens, seine momentane Schreibsituation, die lineare Handlung der chronologischen Eingangskapitel begleitet. Da geht es um die Relativierung des Begriffs Moderne am Beispiel der Malerei im Mittelalter und der Renaissance, dass der scheinbare Fortschritt der gewonnenen Perspektivität im Zeitalter der Wiedergeburt in einem zeitlich übergeordneten Zusammenhang und als Gegensatz von Figur und Bild gedacht, vielleicht kein so großer ist. Sondern dass es darum geht, am unverstandenen, fremden Rand einer Zeit zu schreiben.
Was Cortàzar hier als Hüpfen zwischen Erzählstrang und Romantheorie vorführt, findet für mich einen Vergleich in Roberto Bolaños Erzählen, der diese Haltung aber nicht aufsplittet, sondern im Erzählfluss zusammenführt. Nun werden Sie sagen, er behauptet Bolaño führt die Schreibweise Cortàzars weiter, modernisiert sie. Nein, jeder der beiden schreibt mit absolut gleicher Berechtigung so wie er das tut, aber auch in der Verwendung der kommentierenden Klammer meine ich Parallelen zu entdecken. Die Felder des Rayuelaspiels verwischen sich bei Bolaño nur auf eine andere Art, der Sprung in das Arbeitsbuch eines fiktiven Schriftstellers ist bei ihm zu einer einzigen dahinfließenden Erzählstimme geworden.
SO..SO… ich habe Sie „verführt“? Zum Himmel und Hölle-Spiel?
Ist nun die „Verführung“ ein „Mädchen-Spiel“? Oder Himmel- und Hölle?
Literarisch betrachtet landen wir dann demnächst wirklich bei Jane Austen ;-)
Dann hätte ich sie eigentlich bei meinen Kommentierungen drüben im eigenen Blog zu den „Wichtigen Frauen für die Literatur“ hinzuzufügen. Allerdings ich bleibe doch lieber bei meiner Konzentration auf die [Post]Moderne… die Romantik Jane Austen`s liegt mir nicht so… Austen ist doch Romantik? Was sagen Ihre Bibliothekskataloge dazu?
Vielleicht dauert es noch zehn oder fünfzehn Jahre bis mich die Leselektüre der Romantik in ihren Bann zieht, ich bei Kerzenschein, im Lehnstuhl sitzend über die jungen Frauenjahre sinnierend via Austen in Erinnerungs-Vergleichen schwelge… wer weiß!?
Jedenfalls zeigt auch dies wieder, dass wirklich alle Werke, die es seither gibt, irgendwie inter-textuell miteinander in Verbindung stehen!
Ohne Jane Austen keine Virginia Woolf, keine Simone de Beauvoir… oder um es mit Gertrude Stein zu sagen: „A rose is a rose is a rose is a rose“
JA, lieber Bücherblogger, das ist es, was mich an dieser POSTMODERNE, so fasziniert, ihre Bezüge zu Vergangenem, dessen Einfluss und das möchte ich nicht nur auf die Literatur münzen. [Ich schrieb es bereits, irgendwo, dass wir, meiner Ansicht nach, derzeit eine sehr starke, sogenannte, „N E O-Postmoderne“ er-leben.]
Ein weiteres Faszinosum, dass jeder, der die Werke der Postmoderne liest, Rayuela ist da ein klassisches Beispiel, zu einer anderen inhaltlichen Buchrezeption gelangt.
Das könnte eine Dritte oder ein Dritter, und dazu braucht man Rayuela gar nicht lesen, gut nachvollziehen, wenn er Ihre Buchrezeption mit der meinigen vergleicht. Was sich wunderbar in unseren beiden sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen zum Kapitel 21 zeigt.
Insofern bin ich selbst gespannt, wohin uns dieses Hin- und Her-Hüpfen, die unterschiedlichen Rezeptionen führen… und unsere gegenseitigen Kommentierungen sind die Steinchen, die wir in die Himmel-und-Hölle-Kästchen werfen….
Ja, lieber Bücherblogger, und ab und zu ist es ja auch nötig, diese Himmel- und Hölle-Kästchen neu aufzumalen, WEIL ein Regenguss kam und die alte Skizze wegspülte!
Insofern eine gute Lese-Woche,
herzlich
Teresa