Leander Sukov: Warten auf Ahab oder Stadt Liebe Tod. Ein Großstadtroman II

“Ich suchte des Nachts in meinem Bette den meine Seele liebet. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht! Ich will aufstehen und in der Stadt umgehen, auf den Gassen und Straßen und suchen, den meine Seele liebet, ich suchte, aber ich fand ihn nicht…”
Hohelied Salomos

Robert Lange_Titelbild_Warten auf Ahab

Robert Lange, kraftproblem #1, 144 cm x 180 cm, acryl on canvas, 2010

Autoren schaffen sich Alter Egos und ich war zunächst skeptisch, ob es gut gehen würde, dass ein Autor von Mitte Fünfzig sich ausgerechnet eine etwa halb so alte, junge Frau und Studentin Marie als Protagonistin aussucht. Nach der Lektüre aber bin ich schwer beeindruckt, wie gut und vor allem wie abgrundtief ehrlich dies Leander Sukov gelungen ist. Sein Großstadtroman ist gleichzeitig auch ein absoluter Gegenwartsroman geworden. Er saugt die heutige Atmosphäre Berlins geradezu in sich auf.

In dem einen Oktobermonat tagebuchartig erzählter Zeit wird der Leser dieses Romans auf den Spuren der Ich-Erzählerin Marie nicht nur sie selbst, sondern auch in ihren Monologen und Gedankenfetzen die Geschichte des ehemals oder immer noch zweigeteilten Deutschlands besser verstehen lernen. Hinter Maries sexuellen Eskapaden zeichnet sich ein Hauptstadtbild ab, das ökonomische Machtstrukturen und politische Verkrustungen beinhaltet, deren Ursachen von dem gescheiterten Sozialismus im Osten und dem nicht überwundenen kapitalistischen System im Westen gleichermaßen genährt wurden. Schon im Prolog ist von den Wenigen die Rede, die sich gegen eine vor allem sozial ungerechte Gesellschaft auflehnen. Dabei kämpft Marie auch mit der östlichen Kleinbürgerlichkeit ihrer Eltern, wobei der Vater sogar IM war, genauso, wie gegen die neofaschistischen Tendenzen der Bundesrepublik. Die vielen Anderen sind das passive, angepasste Bürgertum schlechthin oder schlimmer noch Neonazis, die vom Machtapparat geschützt werden. Westen und Osten, Stadt und Land, in Marie prallen auch die Gegensätze des westlichen Kapitalismus und das Ideal eines utopischen Sozialismus nach der Wende aufeinander. In Marie drückt sich eine Enttäuschung aus, dass die DDR im Kapitalismus nach ihrer Staatsauflösung spurlos verschwunden und aufgegangen zu sein scheint. Darin steckt eine gehörige Portion Ostalgie, die sich auch in verlorenen Worten wie “Broiler”, jetzt Saft statt “Juice” und “Einraumwohnungen” findet, was sie beklagt. Immer spielt der Roman auf zwei Ebenen, der privaten Liebesgeschichte und der Geschichte des politischen Kampfes. In dieser zweiten Ebene kommen sicher die politischen Überzeugungen des Autors zum tragen und die Protagonistin wird auch zum Sprachrohr seiner Weltsicht, was penetrant agitatorisch wirken könnte. Tut es aber nicht wirklich, denn die politische Aussage wird gleichzeitig ständig durch sprachliche Präzision und poetische Ausdruckskraft abgefedert, vielleicht gemildert und dennoch untermauert. Die Fiktionalisierung gibt so dem Politischen einen zutiefst menschlichen Hintergrund, während das scheinbar nur Menschliche immer auch politisch verstanden wird.

Dabei dient dem Autor Herman Melvilles Roman Moby Dick wie eine metaphorische Hintergrundfolie. Bereits der erste Satz “Nennt mich Marie.” lautet bei Melville “Call me Ishmael.” Auch das Erzählgerüst der Ich-Erzählung, der Plot, die unterschiedlich verarbeiteten Sprachjargons und die politisch-philosophischen Passagen erinnern an den Aufbau Moby Dicks. Als Besonderheit werden Träume Maries und ihre innere Stimme oft kursiv gegen den Monolog gesetzt. Die Großstadt ist der weiße Wal, den Kapitän Ahab als ersehnter Held einer leidenschaftlichen Liebe besiegen muss. Diese Parallelen werden jedoch nicht überstrapaziert, sondern lediglich als Klammer für einen ganz eigenen, modernen Erzählstil genutzt und um mit der Geschichte Maries auch viel von der eigenen zu erzählen. Denn immer las ich Maries Geschichte, vom Geschlecht einmal abgesehen, auch als autobiographisch gefärbten Bericht, als Blick über die eigene Schulter des Autors selbst. Ganz deutlich wird dies an zwei Stellen, wo die Erzählebene bewusst durchbrochen wird und der Autor sich durch Marie hindurch selbst anspricht, bzw. durch ihre Tätigkeiten zu erkennen gibt: “Im Auto habe ich die Angst schon wieder ganz vergessen, erst jetzt, wo ich Euch das erzähle, fällt sie mir wieder ein. Jetzt, da mir Sukov übers Haar streicht und Ihr mir zuhört, da weiß ich wieder um sie.” (S. 257) oder schon früher ein anderes Mal, wo es von Kevin, einem ihrer sexuellen Verhältnisse, heißt:

“Zwei streben einem Ziel zu. Er und ich zu ihr, meiner Fluchtburg, meiner Außenweltkommunikationsanlage, wo ich Nächte vor dem Laptop verbringe und in Welten reise, die nie Marie zuvor gesehen hat, wo ich neue Lebensformen entdecke und neue Galaxien. Wo ich in die Texte von Polly Scattergood falle und mir an den englischen Originalsonetten von Shakespeare die Verzweiflung des Nichtverstehens überziehe wie ein T-Shirt. abab – cdcd – efef – gg. Und die These in den ersten beiden Quartetten und die Antithese im dritten und dann, wie ein Aphorismus, die Synthese im Couplet. Und so prachtvoll die Sprache, so tief, so abgründig, dass ich nicht begreife, was im Dunkel des Abgrunds liegt. Und wo ich mir Pornos reinziehe, Fakes erschaffe, wo ich mich als junge Frau verhalte, die sich verhält, als wäre sie ein älterer Mann, die Hand immer am Schwanz beim Schreiben, der vorgibt, eine junge Frau zu sein. As you like it.”                     (S. 151)

Da muss man natürlich wissen, das Leander Sukov 21 Sonette Shakespeares nachdichtete: “Ist besser, verdorben auch zu sein…”, in denen er einer möglichen Bisexualität Shakespeares in eigenen Übersetzungsworten nachforscht und so poetisch plausibel zu begründen sucht. Gerade die Ehrlichkeit dieses Einbringens des Autoren-Ichs in die Fiktion hat mich an der Liebesgeschichte Maries berührt. Hier schreibt jemand in der Fiktion mit offenem Visier.

In einem ostdeutschen Dorf in der Nähe Berlins 1988 geboren, hat Marie ein sexuelles Verhältnis mit dem dortigen, Mitte dreißig jährigen Kneipenwirt Lutz. Zum Studieren nach Berlin gezogen beginnt sie eine sadomasochistisch geprägte Beziehung zu Kevin, der in ihrem Alter ist, denn der labil wirkende, junge Mann liebt sie geradezu unterwürfig, was sie in keiner Weise außer im dominierenden Beischlaf mit ihm erwidern kann. Marie ist unfähig anders als sexuell zu lieben. Sex spielt bei Sukov eine zentrale Rolle. Er nähert sich diesem Thema aber nie vulgär, sondern legt den Fokus auf das Innere, die Gedankenwelt der Protagonistin bei dem wohlbekannten Ritual. Minutiös und gelungen wirdimage Maries Ambivalenz zwischen ihrer sexuellen Befriedigung und dem wie eine Klette empfundenen Liebesanspruch Kevins geschildert. Ein gewisser Widerspruch schien mir darin zu liegen, dass im Politischen sehr auf die Seite der Opfer geschaut wird, im Sexuellen aber die Perspektive der Nichtgeliebten, denen Marie zum Teil masochistisches Verhalten unterstellt, bei dieser Erzählperspektive im Blickwinkel vernachlässigt wird. Die Figur des naiven Revoluzzers Kevin hat ihrer Dominanz sexuell nichts entgegen zu setzen. Die von ihr nicht Geliebten werden so oft auf ihre Art auch zu Beziehungsopfern. Als sie einen Gelegenheitsjob als Thekenbedienung antritt, verliebt sich auch ihre Chefin Katharina in sie. In einer Nacht gibt sie deren körperlichem Drängen wiederum nach, muss aber auch die Frau enttäuscht zurücklassen. In der Kneipe macht sie die Bekanntschaft eines 30 Jahre älteren Aktivisten, dem “Silberhaarmann”, mit dem sie politisch und sexuell auf der gleichen Wellenlänge zu liegen scheint, aber auch ihm kann sie nicht anders begegnen als ausschließlich mit körperlicher Nähe. Diese Kontakte geben ihr zwar Halt und sie empfindet durchaus Zugehörigkeit und Freundschaft in ihren Bekanntenkreisen und linken Bars, aber sie bleibt trotzdem stets verloren und unausgefüllt in ihrer Suche nach dem Mann für die wahre Liebe, ihrem Ahab, mit dem sie über das Sexuelle hinaus Liebe empfinden würde. Die Liebesunfähigkeit lässt sie sowohl ihre kleine Stadtwohnung als auch das Heimatdorf als trostlose Enge erfahren. Doch Marie sucht nach der Wahrheit hinter dieser Trostlosigkeit der Dinge. Nicht die IM-Tätigkeit ihres Vaters an sich, sondern das lasche, wegduckende Verdrängen stört sie. Sie ist eine kämpferische Natur, die hinter ihren Überzeugungen steht.

Der Plot spitzt sich am Ende etwas vorhersehbar zu, aber seine erzählerische Ausführung hat eine ganz eigene Brillanz vor allem im gefundenen sprachlichen Ton. Die große Liebe taucht ein wenig als “Deus ex machina” in Form des jungen Jonas auf, der Marie bei einer antifaschistischen Demo rettet, wo sie von der Polizei krankenhausreif zusammengeschlagen wird und für den sie zum ersten Mal wirklich Liebe empfindet. Damit verändert sich ihre Lebenseinstellung und Wahrnehmung und wie in einem Rausch verlebt sie einige Tage in einem Glückszustand mit ihrem neuen Geliebten. Wer die Handlung Moby Dicks kennt und sei es nur aus gleichnamigen Filmen, ahnt am Schluss, dass unweigerlich noch der Tod Einzug halten muss, dessen genaues Gesicht ich den potentiellen Lesern aber hier nicht verraten möchte.

Die ganze Struktur des Romans  beschränkt sich nicht nur auf das haltlose Irren Maries von einem One-Night-Stand zum anderen, sondern die Liebesgeschichte ist verwoben mit Politik. Die Gebäudemauern Berlins umweht die leidvolle Geschichte der Opfer, die in ihnen wohnten. Ob in Feudalismus, Nationalsozialismus, Nationalismus überhaupt oder dem mit Bedauern betrachtetem gescheiterten Experiment sozialistischer Herrschaft, Marie sieht sich auf der Seite der Unterdrückten für die Utopie einer gerechteren Gesellschaft kämpfen. In dieses Erzählnetz verstrickt sind literarische, philosophische Zitate, aber auch solche aus Maries erstaunlich modernem Musikgeschmack. Maries Monolog schwimmt trotz realpolitischer und historischer Elemente immer auf einem poetischen Meer impulsiver Worte, der ihr Inneres schonungslos aufschlägt wie ein schnörkelloses Buch.

Für mich war es eine gute Lektüre, die mich davon überzeugte, dass es abseits des Mainstreams Schriftsteller gibt, die mit ihrem ganzen Autoren-Ich authentisch hinter ihren Fiktionen stehen. Ein herausfordernder, mutiger, bisweilen politisch anklagender Roman mit sehr viel Insiderwissen über eine linke Berliner Szene, in der das Ideal der freien Liebe ohne Eifersucht zählt. Mehr noch aber der unermüdliche Kampf gegen den weißen Wal, der mir ein Symbol für jegliche Form der gesellschaftlichen Unterdrückung zu sein scheint. Kann man überhaupt einen Roman als politische Liebesgeschichte schreiben? Und ob, Leander Sukov kann das auf eine bestechend ehrliche Weise. Ich werde in einem neuen Beitrag auch noch ein paar Worte über die Novelle “Homo Clausus” verlieren, in der einige Motive dieses Romans wieder auftauchen.

Warten_auf_Ahab
Berlin: Kulturmaschinen Verlag 2012. Mit 10 s/w Illustrationen. 279 S. 17,80 €           www.kulturmaschinen.com